„Wir im Norden sind Luftfahrt“

Airbus-Konzernbetriebsratschef  Holger Junge im Interview

Er ist eher ein Mann der leisen Töne. Dabei ist Holger Junge einer der weltweit mächtigsten Arbeitnehmervertreter, denn der 58-Jährige vertritt als Vorsitzender des Airbus-Konzernbetriebsrates 61.000 Beschäftigte in Deutschland und er ist Co-Vorsitzender des europäischen Betriebsrates. Seit sieben Jahren ist er Chef des Konzern-Betriebsrates, seit 40 Jahren im Flugzeugbau in Finkenwerder tätig. Holger Junge ist auch Mitglied des Airbus-Aufsichtsrates, und in seiner Funktion faktischer Gegenspieler der Konzernspitze um Guillaume Faury, dem er nach eigenen Worten professionell begegnet. Jeder wisse zu jeder Zeit, auf welcher Seite er stehe.

Herr Junge, die Auftragsbücher bei Airbus sind prallvoll, überall in der Welt werden Mitarbeitende gesucht, zudem ist der Aktienkurs auf höchstem Niveau. Haben Sie als Betriebsrat jemals eine so komfortable Situation erlebt?

Im zivilen Flugzeugbau sind wir extrem gut aufgestellt, wir stehen am Markt sehr gut da. Dies gilt auch für den Bereich Helicopters, da sind wir auch Weltmarktführer im zivilen Hubschrauberbau. Im Bereich Defence und Space ist die Situation nicht so eindeutig. Der militärische Bereich läuft gut, nicht ganz so gut ist die Lage in der Raumfahrt. Da haben wir viele Konkurrenten im Kampf um Aufträge.

Bleiben wir im zivilen Flugzeugbau, weil das für uns in der Region die große Rolle spielt. Die Produktion wird hochgefahren und überall in der Welt werden Mitarbeitende gesucht. Nochmals die Nachfrage: Haben Sie schon einmal so eine komfortable Situation erlebt?

Uns geht es im Moment extrem gut, und wir haben eher das Luxusproblem, die Wünsche der Airlines zu erfüllen. So eine gute Lage hatten wir bei Airbus noch nie. Wir haben viele gute Bestellungen und die Auftragsbücher sind voll. Uns ist schon bewusst, dass das für unsere Kolleginnen und Kollegen in dieser Hinsicht eine komfortable Situation ist. Aber daraus resultieren auch viele Probleme, und wir müssen versuchen, die Belastungen der Beschäftigten in Grenzen zu halten.

Wenn Sie hören, dass Korean Air 33 Flieger bestellt, davon 27 Großraumflieger, was überwiegt da bei Ihnen: Die Freude über den Auftrag oder die Befürchtung, dass das die Beschäftigten gar nicht schaffen können?

Ich würde das anders bewerten und von einer Herausforderung sprechen, denn unsere Produktionskette und auch die Lieferketten waren in der Pandemie heruntergefahren und mussten ganz schnell wieder aufgebaut und stabilisiert werden. In einem Tempo, dass uns alle überrascht hat. Wenn mir vor drei Jahren jemand prophezeit hätte, dass wir uns Anfang 2024 in so einem Hochlauf befinden, dann hätte ich viel dagegen gewettet. Dass sich der Markt so schnell  erholt, und die Airlines so viel Geld investieren, hätte ich nie erwartet. Aber jetzt geht es darum, die Produktion zu steigern und die daraus resultierenden Probleme zu lösen.

Sie sprechen den Hochlauf an, 75 Flieger der wichtigen A320-Baureihe sollen bis 2026 monatlich produziert werden, eigentlich eine unfassbare Zahl, vor Corona waren das 40 im Monat.

Das ist so, wir produzieren derzeit in den Endlinien in Hamburg, Toulouse, Tianjin und Mobile schon ca. 60 Maschinen im Monat und fahren parallel die Produktion für die A330 und die A350 hoch. Das ist eine gewaltige Kraftanstrengung in der Produktion bei uns, aber auch bei allen Zulieferern, denn die Lieferketten sind angesichts dieser hohen Anforderungen auch nicht immer ganz stabil. Wir müssen schon darauf achten, dass wir die Belastungen für alle Beteiligten des Hochlaufs nicht auch hochfahren. Der Hochlauf muss sich auf die Produktion beziehen und nicht auf die Arbeit unserer Beschäftigten. Wir haben unser Produktionsziel von 734 produzierten Fliegern im vergangenen Jahr mit einer immensen Kraftanstrengung zum Jahresende erreicht. Das ging schon an unsere Grenzen. Doch am Ende des Hochlaufs steht die Zahl 75. Das wird gewaltig werden.

Nach den Angaben des Managements gab es im vergangenen Jahr 1.750 Neueinstellungen in den Nordwerken und auch in diesem Jahr werden weitere Stellen geschaffen. Gibt es eine Zahl für die Neueinstellungen in diesem Jahr?

Eine Kennziffer gibt es vom Management nicht, nur die Aussage, dass es weitereFesteinstellungen geben wird. Airbus sucht aber auch weitere Leiharbeitskräfte an allen Standorten, wobei der Aufbau aber nicht das Niveau von 2023 haben wird.

Holger Junge beim Staatsbesuch mit den Ehepaaren Macron

Warum Leiharbeitskräfte, wenn doch so viel Arbeit vorhanden ist?

Die Frage stellen wir auch, aber der Arbeitgeber möchte eine gewisse Flexibilität behalten. Aber die ist nicht mehr grenzenlos, denn wir haben einen Tarifvertrag abgeschlossen, in dem das Verhältnis von Stammbelegschaft zu Leiharbeitskräften geregelt ist. Die maximale Leiharbeitsquote ist in diesem Jahr auf 11,5 Prozent der Beschäftigten begrenzt und wird bis 2028 auf zehn Prozent reduziert. Ganz wichtig dabei: Die Leiharbeitskräfte werden wie die Stammbelegschaft entlohnt und können nur 36 Monate im Unternehmen bleiben. Wenn ein Arbeitsplatz vorhanden ist, müssen sie nach diesen drei Jahren fest angestellt werden.

Auch wenn das schon fast Geschichte ist: Noch vor zwei Jahren haben die Betriebsräte gegen die Gründung der Tochtergesellschaft Aerostructure gekämpft, aus heutiger Sicht war das aber doch eine gute Entscheidung, die Produktion zentral zu steuern?

Moment, wir haben nie die Vereinheitlichung der Produktion der Strukturbauteile infrage gestellt. Den gesamten Produktionsprozess von einem Management steuern zu lassen, ist mit Sicherheit der richtige Weg – aber ob man dafür eine neue Firma gründen muss, wage ich nach wie vor zu bezweifeln. Das ganzheitliche Denken und Arbeiten im Produktionsprozess war aber unbedingt notwendig, um die Anforderungen zu bewältigen. Das haben wir auch nie infrage gestellt. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Aerostructure einen sehr guten Job macht, und wir jetzt sehr schnell die Werke Varel und Augsburg von der Premium Aerotec Industrie in Aerostructure integrieren müssen. Dies ist für Mitte 2025 geplant.

Stichwort Management. Mit Christian Scherer ist jetzt ein Deutscher zum Chef der zivilen Flugzeugsparte im Konzern aufgestiegen. Er hat damit den Bereich übernommen, den bislang der französische CEO Guillaume Faury in Personalunion führte. Ist Airbus damit wieder ein Stück weit mehr deutsch geworden?

Ich finde es sehr gut, dass Christian Scherer die neue Rolle im Konzern als Verantwortlicher für die gesamte zivile Flugzeugsparte, die übrigens 70 Prozent des Umsatzes erwirtschaftet, übernimmt. Dass er Deutscher ist, mag für das politisch immer hochsensibel gehandelte Thema der Deutschen in der Airbus-Führung interessant sein, ändert aber nichts daran, dass Airbus ein französisches Unternehmen ist. Wie in allem großen Konzernen fallen auch bei Airbus alle wichtigen Entscheidungen in der Zentrale, und die ist in Toulouse. Das war aber schon immer so, wird aber immer wieder Mal gerne diskutiert. Es ist eine Mär, dass es einmal anders gewesen sein soll. In allen großen Konzernen spielt in der Zentrale die Musik.

Apropos Konkurrenz. Der größte Airbus-Mitbewerber hat seit Monaten schwere Turbulenzen, Boeing scheint die Sicherheitsprobleme nicht in den Griff zu bekommen. Wie blicken Airbus-Verantwortliche auf die Krise des Mitbewerbers?

Wir sollten nicht mit Hochmut auf deren Situation blicken, sondern stattdessen alle Anstrengungen darauflegen, nie in so eine Situation zu kommen. Wir müssen unser Qualitätsmanagement weiterhin ganz hochhalten. Die Situation bei Boeing sollten wir als Mahnung für unser eigenes Handeln sehen. Qualität ist der Schlüssel für die gesamte Luftfahrt. Die Menschen müssen mit einem sicheren Gefühl in ein Flugzeug steigen. Das muss unser aller Ziel sein.

Bei Airbus wird seit Jahren geforscht, um 2035 einen ganz neuen Flieger in der Luft zu haben. Stehen die Betriebsräte schon jetzt in den Startlöchern, um die Arbeitspakete dieser neuen Flieger für
die deutschen Standorte zusichern?

Natürlich. Wobei es beim Blick in die Zukunft zwei Ebenen gibt. Wir haben zunächst die Neo-Flugzeuge in der A320/A330- und A350-Baureihe, die schon jetzt den herkömmlichen Spritverbrauch um 30 Prozent gesenkt haben. Es ist durchaus möglich, dass wir diese Flieger weiter entwickeln und sie mit weiteren Sprit-Einsparungen und besserer Aerodynamik, Gewichtseinsparung oder Optimierung der Triebwerke noch klimafreundlicher werden. Der nächste Sprung wird dann gewaltiger sein, denn wir müssen den CO2-Ausstoß weiter senken und ein emissionsfreies Flugzeug entwickeln, das dann in den Dreißigerjahren ähnlich erfolgreich sein wird wie die A320-Baureihe. Die entscheidende Frage wird sein, welche Lösungen wir zusammen mit den Triebwerksherstellern über die Antriebe der Zukunft finden. Es kann sein, dass wir über synthetische Kraftstoffe eine Lösung finden, es kann aber auch sein, dass wir über Wasserstoff reden. In ersten Studien hat Airbus schon vor drei Jahren drei Wasserstoff-Flugzeuge unter der Bezeichnung ZEROe vorgestellt, die hybridelektrisch angetrieben werden, also teils über Brennstoffzellen, teils über Verbrennungstriebwerke. Wo Brennstoffzellen oder Verbrennungstriebwerke mit Wasserstoff zum Einsatz kommt werden, ist noch offen. Airbus forscht in alle Richtungen, wie beispielsweise Materialeinsatz, Aerodynamik und Flugsteuerung, um für die nächsten Flugzeuggenerationen vorbereitet zu sein.

Und wie sieht es mit den Arbeitspaketen der Zukunft in den deutschen Werken aus?

Das Management tut sich in diesen Fragen schwer, Garantien für die Zukunft auszusprechen. Aber ich bin mir aus den Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte sicher, dass wir es als Betriebsräte schaffen, dass auch in Zukunft in Finkenwerder, Stade, Buxtehude, Nordenham, Bremen, Varel und Augsburg der Flugzeugbau eine große Rolle spielen wird. Wir im Norden können schon aus großer Überzeugung sagen: Wir sind im Norden Luftfahrt.

Deichlust

Text: Wolfgang Stephan · Fotos: Airbus