Was passiert, wenn eine Italienerin mit Marketinginstinkt und ein ehemaliger Hockey-Olympionike mit Essig-Erfahrung aufs Land ziehen? In Jork entsteht ein Hof, der nicht nur Apfelessig nach dem Aceto-Balsamico-Verfahren produziert, sondern einen ganzen Lebensentwurf erzählt – zwischen Design, Landwirtschaft, Yoga und Apfelschorle.
Zuerst war da die Idee, etwas gemeinsam zu machen. Sinnstiftend und lebenserfüllend. Etwas Echtes. Gleichberechtigt. Apfelessig? – wie einst sein Großvater in den Sechzigerjahren. Henning Fastrich war vom Fach, arbeitete er doch jahrelang bei Europas größtem Essig-Hersteller. Seine Partnerin Tiziana Kleine, gebürtige Italienerin, dachte weiter. In Konzepten, in Möglichkeiten, in Atmosphäre. Die Hauptstädter suchten im Berliner Umland einen Hof, um ihren Traum wahr werden zu lassen. Gefunden haben sie drei Grundstücke im Alten Land. „Altes Land – was ist das eigentlich?“, hatte sich Tiziana zuerst gefragt. Doch Alt-Hamburger Henning kannte und mochte die Region, und so fuhren die Berliner im Oktober 2020 nach Jork. „Urplötzlich waren wir schockverliebt“, sagen beide. Das Reetdachhaus, das Nebengebäude, der wilde Garten, 1,5 Hektar. Im Oktober 2020 standen sie dort. Seither sprudeln die Ideen.
Denn was sie vorfanden, war nicht nur ein Ort, sondern Inspiration. Die Weirouge, eine leuchtend rote Apfelsorte, wächst auf dem Grundstück. Außen rot, innen rot. Nicht nur hübsch, sondern gesund – dank Anthocyanen, den Pflanzenfarbstoffen mit antioxidativer Wirkung. Neben Weirouge auch Wellant – ein Apfel, den selbst viele Allergiker vertragen. All das und mehr fanden sie vor. Sie wussten: das ist es. Wenige Monate später kauften sie das Anwesen im Ortskern von Jork.
Fortan planten, sanierten, koordinierten sie mit dem Denkmalamt. Immer mit dem Blick für die Substanz. Immer mit der Frage: Was ist gut für das Haus? Eineinhalb Jahre lang dauerte es. Im Sommer 2022 packten sie ihre Koffer und zogen aufs Land. Ins Alte Land. Es war der richtige Zeitpunkt. Die erste Apfelernte kam, Freunde und Familie halfen, das ganze Dorf auch. Inspiriert vom Agriturismo in Italien entwickelten sie Produkte, die sie produzieren wollen. Als erstes Apfelsaft und Apfelschorlen. 60.000 kleine Flaschen ließen sie gleich im ersten Herbst abfüllen. „Wir produzieren, was Sinn ergibt“, sagt Tiziana. Der Businessplan aus Berliner Tagen wurde dabei nicht nur Grundlage, sondern wandelte sich mit.
Der Saft war erst der Anfang. Es folgten Duftkerzen – Apfelblüte und Roter Apfel. Handgemacht. Mit natürlichen Ölen und Holzdeckeln aus Esche. Dann der Honig – gemeinsam mit Imker Jan Biggemann. Der Apfelessig, Appelceto, wird noch in Italien produziert – aber soll bald auch in Jork reifen, im Fass, zum Probieren. The Jork ist „ein Hof zum Anfassen“, sagen beide. Und das stimmt. Vieles ist jetzt schon möglich. Noch mehr wird kommen.
„Vielleicht lag’s an den Gummistiefeln, dass wir in Jork so gut aufgenommen wurden“, sagt Tiziana. „Wir sind einfach aufs Feld gegangen und haben losgelegt.“
Es war ein Wagnis, als Unbekannte das Unbekannte zu vollbringen: „Wir sind keine Landwirte. Und auch keine Altländer“, sagt Henning. Und doch: Sie wurden offen empfangen. „Wir waren überrascht, welche Unterstützung wir von den Altländern bekommen haben.“ Die Gemeinde war da. Die Nachbarn auch. Die ersten Restaurants bestellten Schorlen. Andere Höfe nahmen ihre Produkte dankend in ihr Sortiment auf.
Und da sitzen sie nun, auf der Bank vor dem Haus und berichten von ihrem Werk – Henning mit ruhiger Stimme, bedacht und fokussiert. Tiziana mit diesem Strahlen, das sofort ansteckt. Es ist eine Wärme in der Luft, die kein Konzept braucht. Echte Gastlichkeit. Ohne Einladung. Ohne Etikette. Einfach so.
Und dann ist da dieser Ort, der mehr ist. Die Yoga-Wiese war mal ein Schuttberg. Doch in liebevoller Kleinarbeit haben sich die beiden Stück für Stück ihren Hof erobert, aufgeräumt und strukturiert. An mehreren Tagen in der Woche treffen sich Yogabegeisterte, Männer oder Frauen, Kinder, In- oder Outdoor, auf der Terrasse oder der Wiese. Auch die ersten Yoga-Retreats fanden bereits statt. Franzi und Leentje (unser Titelmodell) von Focus Your Flow verbanden im März Yoga, Meditation, Kakao-Zeremonie, Mantra-Singen und Soulfood – ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen kann. Bald schon sollen Lesungen folgen, Ausstellungen, Theater, Kultur. Alles ist möglich.

Langeweile kennen Tiziana und Henning nicht. Jeden Tag warten neue Projekte, neue Aufgaben. Auch neben dem Hof. Henning Fastrich ist ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Hockey-Bundes. Einmal Olympionike, immer Teamplayer. 1988 gewann der heute 62-Jährige als Nationalspieler bei den Olympischen Sommerspielen in Seoul mit der deutschen Hockey-Nationalmannschaft die Silbermedaille. Heute gibt er dem Sport etwas zurück – mit Weitblick, Erfahrung und Haltung.
Tiziana bringt ein Netzwerk aus Italien mit, ein feines Gespür für Gestaltung und ein tiefes Verständnis für gutes Produktdesign. Das zeigt die 57-Jährige im Detail: in Materialien, in Sprache, in Atmosphäre. In der Verpackung. Im Zusammenspiel von Ästhetik und Inhalt. Diese Haltung spiegelt sich auch in der Marke selbst wieder: „The Jork“, zusammengesetzt aus T wie Tiziana, He wie Henning. Gemeinsam mit Familie und Freunden – einige aus dem Marketing – wurde formuliert, verworfen, gefeilt. Sie dachten sich hinein. Und irgendwann wussten sie: Das ist es.
An Kreativität fehlt es dem Paar nicht. Aber sie verlassen sich nicht nur auf Träume. Beide geben jeden Tag alles für ihren Apfelhof als Erlebnis-Manufaktur – und wissen, dass dieser Traum auch betriebswirtschaftlich tragen muss.
„Wir müssen uns und unsere Pläne immer wieder messen“, sagt Henning. Leidenschaft ja, aber mit Verantwortung. Und mit Geduld. Der Weg ist es. Die Entwicklung. So wachsen sie langsam. Von innen heraus. Es muss nicht alles perfekt sein. „Wir haben nicht den Drang, uns etwas beweisen zu müssen“. Manchmal bleibt das Unperfekte viel mehr im Gedächtnis, wissen sie. Noch heute erzählen sie mit leuchtenden Augen vom ersten gemeinsamen Weihnachten auf dem Hof – mit ihren sechs Patchwork-Kindern, improvisiert, in halbfertigen Räumen, mit Tausenden Kerzen und abgehängten Fenstern.
Seit Anfang des Jahres sind die Ferienwohnungen fertig. Ländlicher Charme, moderne Küche, gemütliche Betten. Spaziergänge durch die Obstgärten inklusive. Und auch der Concept Store wird im Sommer eröffnen. 60 Quadratmeter Jork, Italien, Apfel. Ein Ort, an dem sich Tizianas und Hennings Welten ganz bewusst überkreuzen: Norddeutschland trifft Italien. Im Regal: Schorlen, Honig, Appelceto. Im Nebenregal: Weine aus Italien, handverlesen, persönlich gekannt. Was ins Sortiment kommt, passt nicht nur geschmacklich, sondern auch in Haltung und Herkunft. Und weil die gewerbliche Küche gleich nebenan liegen soll, sind Tastings, kleine Events oder spontane Meetings Perspektive. Die Ideen sind vielfältig. Und wachsen mit. Es soll ein Laden sein, ja – aber im zweiten Schritt auch ein Treffpunkt. Für Gäste, Nachbarn, Neugierige – auch Großstädter. Für Menschen, die nicht einfach nur einkaufen wollen. „Wir sind keine Gastronomen“, sagt Tiziana.
„Aber wir glauben an den Wert der Begegnung.“
Beide sind neugierig, offen, interessiert – und gute Zuhörer, so Tiziana. Das gefällt auch den Altländern. „The Jork“ lädt ein zum Aperitivo im Alten Land. Mit einer Apfelschorle in der Hand und einem Gefühl von: Bleib doch noch einen Moment. Hund Punto springt über den Hof. Henning tuckert auf dem Trecker vorbei, Baujahr 1967 – wie Tiziana. Denn wer Gabelstapler fahren kann, kann auch Trecker fahren, sagt er. Learning by doing – so war’s von Anfang an.

Text: Mona Adams · Fotos: Volker Schimkus