Foto: Jan Iso Jürgens
Frische Frucht: Mit Tausenden Nadelstichen bringt die Tätowiermaschine die gelbe Zitrone unter die Haut.

Nadelkunst für die Ewigkeit

Ich war noch nie im Gefängnis. Ich fahre nicht zur See und auch kein Motorrad. Mein Mann und meine zwei Söhne sind meine Gang. Ich mag Tattoos. Schon immer. An anderen. Mit 40 Jahren traue ich mich endlich. Mit hochgekrempeltem Hosenbein liege ich im Tattoostübchen Altes Land. Eine fremde Frau wird mir gleich Hundertausendfach in die Haut stechen. Worauf habe ich mich da eingelassen?

Text: Leonie Ratje · Fotos: Jan Iso Jürgens

Ötzi hatte welche, auch Kaiserin Elisabeth von Österreich (Sisi) schmückte eines und über die Plätze der Fußball-Bundesliga dribbelt heute kaum ein Fußballprofi ohne: Die Körperkunst reicht mehrere Tausend Jahre zurück und liegt heute mehr im Trend denn je. Fast jeder fünfte Mensch in Deutschland trägt eine Tätowierung; 17 Prozent der Bevölkerung, laut Datenbank Statista. 

Der Begriff Tattoo geht auf das tahitanische Wort Tatau zurück, was so viel heißt wie „kunstvoll hämmern“. Die Körperverzierungen haben sich in verschiedenen Kulturen unabhängig voneinander entwickelt. Sie waren Stammesrituale und zeigten die Zusammengehörigkeit einer Gruppe. Die Griechen markierten mit ihnen ihre Sklaven, die Römer nutzen sie, um Legionäre zu kennzeichnen. Manchmal hatten Tattoos auch einen medizinischen Zweck und sollten helfen, Krankheiten zu besiegen. Im Mittelalter verbot die Kirche Tätowierungen, und im 18. Jahrhundert machten Seeleute sie in Europa gesellschaftsfähig. 

Angst vor der Unumkehrbarkeit

Ich finde Tattoos schlicht schön. Eigentlich schon immer. Dennoch habe ich den Weg ins Studio bislang nicht gewagt. Weil ich die Unumkehrbarkeit fürctete. Weil ich kein passendes Motiv für mich fand. Weil ich nicht wusste, wo auf meinem Körper. Mit 40 Jahren habe ich mich einfach entschieden. Ich investiere in eine Portion Tinte unter der Haut. Wer billig kauft, kauft zweimal, sagt meine Mama oft. Klar, sie meint damit sowas wie Schuhe. Für ein schlechtes Tattoo gibt es keine zweite Chance. 

Auf Empfehlung einer Bekannten lande ich beim Tattoostübchen Altes Land, das die beiden selbstständigen Tätowiererinnen (und engen Freundinnen) Tina Lutterkort-Rasenberger und Lisa Bredehöft gemeinsam führen. Per E-Mail nehme ich Kontakt auf. Motivwünsche habe ich eher lose im Kopf. Einen Tiger vielleicht. Oder eine Zitrone. Den Super-Mario-Stern oder schöne Blumen. 

Im Vorgespräch mit Tina und Lisa einigen wir uns auf eine Zitrone. Lisa wird sie zeichnen und mich tätowieren. Auf dem Unterarm oder der Wade, die Positionierung lassen wir vorerst offen. „Nicht zu groß auf jeden Fall“, sage ich noch. Im Anschluss schicke ich der Künstlerin vorfreudig einige Bilder von Zitronen-Tattoos, die mir gefallen. Ich trage keinen Schmuck. Selbst mein Ehering bleibt in den meisten Tagen im Badezimmerschrank liegen. Wie praktisch, den Schmuck künftig direkt auf der Haut – oder besser: unter meiner Haut – zu tragen.

Eine Skizze bekomme ich im Vorfeld nicht zu sehen. Das fertige Motiv zeigt mir Lisa, als ich am Morgen des großen Tags im Tattoostübchen ankomme. Die Zeichnung gefällt mir, das Studio auch. Ein gemütliches Sofa im Empfangsbereich, tolle Kunst an den Wänden (allesamt von Lisa und Tina), Klassikrock aus den Studio-Lautsprechern, zwei entspannte Inhaberinnen. Von mir aus kann‘s losgehen. 

Die Tattoo-Schablone (Stencil) wird auf der Wade positioniert

Doch ehe Lisa ihre Tattoomaschine, die wie ein dicker Stift aussieht, anschmeißt, muss sie ihre Zeichnung als Schablone auf meine Haut bringen. Das funktioniert mit Tattoo-Übertragungspapier. So ähnlich wie die Klebetattoos meiner Kinder – nur eben jetzt mit einer Zitrone statt T-Rex. Lisa reinigt meine Wade. Den Rasierer legt sie beiseite, das habe ich bereits selbst erledigt.

Mit feinen blauen Umrissen einer Zitrone auf der rechten Wade trete ich kurz darauf vor den Spiegel. Ein sensibler Moment für mich als People Pleaser. Ich will es anderen Menschen möglichst recht machen, ihnen gefallen. Selbst der Tätowiererin, auch wenn ich die Zitrone für den Rest meines Lebens mit mir trage. „Hmm“, mache ich und drehe mein Bein im Spiegel hin und her. Lisa durchschaut mich sofort. „Wir können es anders positionieren, kein Problem“, sagt sie. „Ja, also, ein Stück weiter zur Seite wäre schön“, sage ich. Lisa wischt den Aufdruck ab und bringt ihn neu auf. Gleiches Spiel. Im dritten Anlauf passt es. 

Frauenrunde: Lisa Bredehöft (vorne rechts) tätowiert die Wade, Tina Lutterkort-Rasenberger verschönert Julia Cirkels Arm.

Tina und Lisa sind Künstlerinnen und Handwerkerinnen. Statt mit Holz oder Metall hantieren sie mit Haut. Die Farbe wird durch die oberste Hautschicht, die Epidermis, hindurch bis in die Lederhaut gestochen, wo sich die Farbpigmente ablagern. Deshalb bleiben sie ein Leben lang sichtbar. 

Während Lisa ihre Werkbank vorbereitet, fülle ich die Einverständniserklärung aus. Die Tätowiererin desinfiziert die Ablagefläche ihres Schubladenschranks, stellt kleine Töpfchen für die Farbe und einen Seifenspender bereit, holt Farbtuben aus dem Schrank und die passenden Nadeln aus der Schublade. Das medizinische Setup erinnert irgendwie an einen Zahnarztbesuch. Ich versichere derweil, dass ich nicht betrunken bin, keine Drogen oder Blutverdünner genommen habe und auch ansonsten topfit bin. Kein Herzleiden, kein Infekt, keine Allergien. Ein gesetzliches Mindestalter für Tätowierungen gilt in Deutschland übrigens nicht. Lisa und Tina aber haben eine eiserne Regel: keine Tattoos für Minderjährige. Eine Tätowierung ist de facto Körperverletzung, die aber, weil sie im Einvernehmen geschieht, nicht strafbar ist. 

Das Bein ist eine gute Wahl für Tattoo-Neulinge

Metallica singen „Nothing else matters“, am benachbarten Tattoostuhl rattert bereits Tinas elektrische Tätowiermaschine. Der Aufsatz erinnert an die Spitze eines Füllers. Catridge (englisch für Patrone) heißt das Nadelmodul in der Fachsprache, in dem sich wie in einer Kartusche oder Pipette die Farbe befindet, die die Nadeln an der Spitze unter die Haut bringen. „Ach, das ist gar keine einzelne Nadel?“, frage ich. Lisa erklärt, dass es unzählige unterschiedliche Nadelmodule gibt. Auf der Nachbarliege wirkt die Altänderin Julia Cirkel ganz entspannt und scrollt auf ihrem Handy, während die Nadeln, tack, tack, tack, in ihren Oberarm stechen. Nach Höllenqualen sieht das nicht aus. Prinzipiell sei jede Stelle des Körpers geeignet für ein Tattoo, sagt Tina. Schmerzhaft sei es vor allem auf dem Fußrücken, am Knie und nahe am Kopf. „Das Bein ist eine ganz gute Wahl für ein erstes Tattoo.“ 

Ich darf es mir jetzt auf der frisch desinfizierten zweiten Liege bequem machen. Meine Tätowiererin schaltet das Ringlicht ein, desinfiziert ihre Hände, streift schwarze Gummihandschuhe über und greift zur Maschine. Ich halte ihr seitlich liegend meine rechte Wade hin. Axl Rose jault „Don’t cry“ in den Raum, und ich atme tief ein. Die Maschine schnarrt. Lisa zieht mit Daumen und Zeigefinger meine Haut straff und beugt sich hinab. Ein Moment für die Ewigkeit. Sie setzt die Nadel an. Autschi. Ich atme aus. Ach so ist das, denke ich und sage: „Ok, das geht voll.“ Wer schön sein will, muss eben leiden. 

Tutto bene! Der Schmerz lässt sich aushalten.

Für die Umrisse meiner Zitrone verwendet Lisa einen Round Liner mit fünf Nadeln, die kreisförmig angeordnet sind und jeweils eine Stärke von 0,25 Millimeter haben. Zum Ausfüllen nutzt sie dann später ein Modul mit sieben Nadeln in zwei Reihen übereinander. 

Die Nadeln schieben sich unter meine Haut, immer wieder. Mit bis zu 10.000 Stichen pro Minute bringt die Tätowiermaschine die Farbtröpfchen an die gewünschte Stelle. Ein bisschen wie die Nähmaschine meiner Mutter; so schnell, dass die Nadelbewegungen unsichtbar für mich sind. „Alles gut?“, fragt Lisa. Ich lehne mich zurück. „Ja, alles feini.“ Tutto bene, denke ich. Das könnte man eigentlich gut neben die Zitrone schreiben…

Die Haut ist unser größtes Sinnesorgan. In allen drei Hautschichten befinden sich unzählige Rezeptoren und feine Nervenenden, mit denen sie Berührungs- und Schmerzreize registriert und an das Gehirn weiterleitet. Tätowiert zu werden, fühlt sich an, als würde jemand mit einem scharfen Gegenstand über meine Haut kratzen. Manchmal ziept es oder es wird heiß. Unangenehm, aber weit entfernt von furchtbaren Schmerzen. Lisa arbeitet hochkonzentriert. Zuerst zieht sie alle Umrisslinien auf meiner Wade nach. Wenn sie absetzt, wischt sie die Melange aus überschüssiger Farbe, Blut und Wundwasser mit einem Tuch weg. Klare Sichtverhältnisse schaffen. Auf dem Stuhl nebenan sitzt Julia Circel und lässt sich von Tina Lutterkort-Rasenberger tätowieren. Während das Mixtape auf ihrem Oberarm Gestalt annimmt, plaudern wir. Ich fühle mich wohl und bestens aufgehoben in dieser gemütlichen Frauenrunde. Nach einer guten halben Stunde sind die schwarzen Linien der Zitrone fertig. Weiter geht es mit den Farben. Lisa wechselt das Nadelmodul. 

Die Freundinnen und Tätowiererinnen Tina Lutterkort-Rasenberger (links) und Lisa Bredehöft führen das Tattoostübchen Altes Land in Jork. 

Für Lisa ist der Umgang mit der Nadel Routine. Ihre ersten Motive hat sie auf sich selbst gestochen. „Das machen eigentlich alle so“, sagt sie und lacht. Tätowierer tragen große Verantwortung, doch eine geregelte Ausbildung gibt es nicht. Es gibt keine Berufsschule, kein Zeugnis, keine Abschlussprüfung. Wer Tätowiererin sein will, ist es. Lisa übte an ihrer Wade. Den schwarzen Schmetterling mag sie bis heute. Im Laufe der Jahre ist sie sicherer geworden – und schneller. Für den ersten zahlenden Kunden habe sie ewig gebraucht, erzählt sie. „Das war ein Anker, und ich habe unglaublich geschwitzt.“ 

Tattoostübchen: Wie alles begann

Dass sie Geld mit dem Tätowieren verdienen könnte, sei lange undenkbar gewesen, sagt sie. Auf Fachabi und Auslandsjahr folgt daher eine Ausbildung zur Gestalterin für visuelles Marketing. Zehn Jahre arbeitet sie in dem Beruf. „Dann habe ich nicht mehr dafür gebrannt.“ Ihr Bruder schenkt ihr einen Ausbildungskoffer mit Maschine und Kunsthaut. Ihr Papa sei gar nicht begeistert gewesen, ihre Mutter ist heute ihr größter Fan auf Instagram. Sie lernt von verschiedenen Tätowierern und trifft in einem Studio auf Tina. Die beiden verstehen sich auf Anhieb, werden schnell sehr gute Freundinnen. Als sich Tina 2021 mit einem Studio in Guderhandviertel selbstständig macht, tätowiert Lisa gelegentlich bei ihr. Ende 2022 steigt sie als gleichberechtigte Partnerin ein. Weil der Laden zu klein ist, zieht das Tattoostübchen Altes Land im Mai 2023 um nach Jork. Die Nachfrage ist groß. Männer und Frauen von 18 bis 75 Jahren lassen sich von Tina und Lisa tätowieren, die meisten seien zwischen 30 und 40 Jahre alt. Für viele haben ihre Tätowierungen eine tiefe Bedeutung. 

Meine Zitrone hat die nicht. „Die haben Piercings, Haarfarben oder Schmuck in der Regel ja auch nicht“, sage ich. „Ich finde Zitronen einfach schön, ich mag den Sommer, Italien ist mein Sehnsuchtsland.“ Und überhaupt: Gäbe es eine tiefere persönliche Bedeutung, würde ich sie vermutlich nicht mit jedem teilen wollen, der danach fragt. „Lustig wird es manchmal bei Motiven, deren Bedeutung dem Kunden nicht klar ist“, sagt Lisa. Ich denke an die Emoji-Aubergine und frage vorsichtig: „Wofür steht denn die Zitrone?“ Julia Cirkel auf dem Nachbarstuhl googelt und gibt Entwarnung: „Die Zitrone ist ein Symbol für Glück, Wohlstand und Reinheit. Sie steht für Frische und Lebensfreude.“ 

Glücklich mit der wunden Zitronenwade im Spiegel

„Fertig“, sagt Lisa, schaltet die Maschine aus und richtet sich auf. Im Tätowiertunnel vergisst sie regelmäßig den Rat ihres Chiropraktikers, sich alle 20 Minuten zu strecken. Ich eile zum Spiegel und strahle: „Mega gut!“ 

Meine Zitronenwade fühlt sich an, als hätte sie einen Sonnenbrand. Die Haut ist gereizt und geschwollen. Ein bisschen wie eine Schürfwunde nach einer Fußballgrätsche. Nur in bunt. Lisa reinigt das frische Tattoo noch einmal gründlich und klebt dann ein transparentes Wundpflaster drauf, das ich nach fünf Tagen entfernen soll. Etwa vier Wochen dauert es, bis das Tattoo vollständig abgeheilt sein wird. Ich bekomme noch eine Creme, die ich zwei- bis dreimal am Tag auftragen soll. „Sauber halten und regelmäßig eincremen, mehr musst du nicht tun“, sagt Tina. 

Es gibt Menschen, die behaupten, Tätowierungen würden süchtig machen. Ich spiele tatsächlich schon weitere Ideen durch. Und freue mich darauf, meine Zitrone im Sommer in Shorts oder Kleid stolz zu präsentieren. Bis dahin überlege ich mir passende Antworten auf die Fragen, die allen Tätowierten gestellt werden:

Hat das nicht wahnsinnig weh getan? Was machst du, wenn es dir irgendwann nicht mehr gefällt? Hast du nicht Angst, dass es im Alter nicht mehr schön aussieht?

Tattoostübchen hinter den Kulissen

Die besten Einblicke in die Arbeit von Tina (@buntelura) und Lisa (@lissy_b_tattoo) gibt es bei Instagram: @tattoostuebchen_altesland. Dort oder auf der Webseite www.tattoostuebchenaltesland.de gibt es auch alle Informationen rund um die Terminbuchung. 

Die beiden veranstalten regelmäßig freitags ihren „Tüddelkram-Tag“. Zu diesem dürfen Kundinnen und Kunden ohne Voranmeldung kommen, um sich ein kleines Motiv stechen zu lassen. Es empfiehlt sich, rechtzeitig aufzubrechen, um sich in die Schlange vor der Studiotür einzureihen. 

Ebenfalls einmal im Monat laden Tina und Lisa montagabends zum „Stübchen-Geplauder“. Gäste haben dann die Möglichkeit, sich im Studio umzusehen, sich über Termine und Abläufe zu informieren und Gutscheine, Schmuck oder Illustrationen der beiden Künstlerinnen zu kaufen. Die Termine gibt das Tattoostübchen Altes Land rechtzeitig auf der Homepage und bei Instagram bekannt.