Um 18 Uhr schiebe ich den Schlüssel ins Schloss zum Paradies, drehe ihn und stoße die Tür auf. Es bimmelt, ich trete ein. Das Stimmengewirr aus den Bars an der Straße verstummt. Alles, was jetzt noch zu mir spricht, sind 1000 Bücher. Und vor uns die Nacht.
Die Buxtehuder Buchhandlung „Schwarz auf Weiß“ bietet ihren Kunden seit vielen Jahren an, während den Wochenenden im Laden zu übernachten. Bis ins Frühjahr hinein sind die Nächte von Sonnabend auf Sonntag ausgebucht. „Für viele Menschen geht ein Kindheitstraum in Erfüllung“, sagt Inhaberin Tanja Drecke. Bis zu sechs Personen dürfen gleichzeitig bei den Büchern schlafen, rund 60 Prozent der Gäste sind Frauen. Die Nacht in der Buchhandlung kostet 80 Euro. Im Preis enthalten sind ein Frühstück in einem Buxtehuder Café sowie ein Büchergutschein im Wert von 20 Euro.
Die Büchernächte seien ein lohnendes Zusatzgeschäft, sagt Tanja Drecke. „Wir generieren Umsatz außerhalb unserer Öffnungszeiten, gleichzeitig sind die Übernachtungen prima für unser Marketing. Insbesondere, wenn Blogger oder Influencer mit großer Reichweite ihre Erlebnisse veröffentlichen, gibt es viel Aufmerksamkeit für unsere Buchhandlung.”
Ich gehe an dem großen Tisch in der Mitte des Raums vorbei. Im hinteren Teil des Ladens liegt eine Matratze auf dem Boden, auf dem Bücherregal dahinter steht eine Lampe. Bettdecke und Kissen habe ich selbst mitgebracht. Auf einem kleinen Tisch liegt ein Zettel mit Informationen zur Technik sowie eine Telefonnummer für den Notfall. Die beiden Schaufensterscheiben sind mit weißen Laken abgehangen. Die Angst, mich wie ein Affe im Zoo zu fühlen, erweist sich als unbegründet.
Diese Nacht in der Buchhandlung ist für mich in mehrfacher Hinsicht das große Los. Zuallererst natürlich, weil ich ein Buchmensch bin. Lesen öffnet mir, seit ich denken kann, Türen zu neuen, spannenden Welten. Unzählige Geschichten stecken hier zwischen den Buchklappen und warten darauf, von mir entdeckt zu werden. Jedes Buch ein Blind Date, jede Erzählung könnte mein Leben verändern. Hinzu kommt: Lesen hilft beim Schreiben. Themen, Erzählperspektiven, Figuren-
gestaltung, Dialogaufbau, Rhythmus – je mehr ich lese, desto mehr lerne ich. Jedes Buch nimmt Einfluss auf meinen eigenen Schreibstil.
Aber ich will ehrlich sein. Das Beste ist: Ich bin allein hier. Eine Nacht nur für mich, ohne Familie. Keine Einschlafbegleitung, keine kleinen Füße oder Popos, die nachts in meinem Gesicht landen. Lesen, bis es nicht mehr bockt, ausschlafen und dann in Ruhe frühstücken. Plötzlich wieder ungebunden und frei, nur ich und meine Buchliebe.
Auf meinem ersten Streifzug durch den Laden – großartig: die meisten Bücher sind so platziert, dass ihr Cover direkt zu sehen ist – sammle ich ein, was keinen prüfenden Blick ins Innere verlangt. Die Kolumnensammlung von Mariana Leky werde ich lieben, eh klar. Sebastian Fitzek und Micky Beisenherz scheinen ebenfalls eine sichere Bank zu sein. Mikita Frankos „Die Lüge“ steht neben Sadie Jones „Die Skupellosen“ ohnehin längst auf meiner Wunschliste.
Zuhause lese ich heute leider viel weniger als früher. Die Kinder, die Arbeit, der Haushalt, der Sport. Die Müdigkeit. Die Müdigkeit. Die Müdigkeit.
Mein halbes Leben lang war ich davon überzeugt, einen Buchmenschen zu heiraten. Wir würden abends nebeneinander liegen, vertieft in unsere Geschichten. Besonders schöne Passagen würden wir einander im Licht unserer Nachttischlampen vorlesen. Nun ja. Die Realität heißt Netflix. Wenn die Kinder endlich schlafen, treffe ich meinen Mann zum Fernsehdinner im Wohnzimmer. Zwei Stunden Zweisamkeit. Und ehrlich gesagt, genieße ich unsere Serienmarathons sehr.
Die Glocken des Petri-Turms läuten Runde zwei ein. Nachdem ich in der Kinder- und Jugendbuchabteilung geschaut habe, was ich meinen Jungs, sieben und vier Jahre alt, demnächst vorlesen könnte (Furzipups, der Knatterdrache?), gehe ich rüber zur Belletristik. (Angeberwissen: Der Begriff für die Unterhaltungsliteratur geht auf den französischen Buchmarkt zurück. Belles Lettres bedeutet so viel wie schöne Literatur.)
Ich lese viele, viele Klappentexte und einige erste Sätze. Das Wort Anlesen zählt übrigens zu meinen Lieblingsverben. „Mama, können wir noch ein Buch anlesen?”, fragen meine Söhne. Zauberhaft, diese Vermengung von Anschauen und Lesen – und erstaunlich sinnhaft.
Mein Blick fällt auf Hanya Yanagiharas „Zum Paradies” und ich denke an ihr mitreißendes Buch „Ein wenig Leben“. An Jude St. Francis, der mich von allen Romanfiguren, denen ich in meinem Leben begegnet bin, am meisten berührt hat. Meine Güte, habe ich geweint. Der neue Yanagihara landet auf dem Stapel neben meinem Nachtlager. Nicht zu früh reinlesen. Angesichts des Sogs, den ihr Erzählen erzeugt, und der knapp 900 Seiten, würde der Lektüre nur noch paradiesischer Schlaf folgen. Meine Finger streichen über Buchcover. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ein bisschen mehr Abenteuer für diese Reportage nicht schlecht wäre. In der Komödie „Nachts im Museum“ erlebt ein Nachtwächter, wie Nacht für Nacht die im Museum ausgestellten Exponate zum Leben erwachen. Wie abgefahren wäre es, wenn nachts in der Buchhandlung plötzlich einige meiner liebsten Romanfiguren ihren Buchseiten entstiegen? Jude St. Francis, Jules Moreau, William von Baskerville und Kimmo Joentaa in der Buxtehuder Altstadt, das wäre eine Geschichte! Die Sprachbarriere würden sie vielleicht bei einer Runde Doppelkopf überbrücken. Ich allerdings würde mich in der Männerrunde in meinem Pyjama wohl eher unwohl fühlen. Dann doch lieber ein paar Bertie Botts Bohnen aus dem Honigtopf mit dem jungen Harry Potter naschen. „Er wird einmal berühmt werden. Wohin man auch kommt in unserer Welt, jedes Kind wird seinen Namen kennen.“ Diese Sätze finden sich im ersten Kapitel des ersten Bandes. 25 Jahre später bekommt mein Großer eine illustrierte Ausgabe des „Stein der Weisen“ zur Einschulung. „Harry“, würde ich dem elfjährigen Gast meiner Pyjamaparty sagen, „es ist wahr. Dein Zauber wirkt bis heute.“
Während es draußen schummrig wird, wächst der Bücherturm. Der Blick auf die Uhr bereitet mir Sorge: so viele Bücher, so wenig Zeit. Strategische Planung ist gefragt. Ich schaue mich um. Die Abteilungen Gesundheit, Aura, Chakra, Kabala, Garten, Fantasy, Science Fiction und „Aus der Heimat“ ignoriere ich wie die Hörbücher und den gesamten Non-Book-Bereich. Konzentration auf das Wesentliche. Es wird Zeit, mich festzulegen und zu genießen.
„Als ich ihn zum ersten Mal sah, hatte ich eigentlich Augen für niemanden.”
Julia Holbe: Boy meets Girl
Der einzige Weg hier raus ist jetzt Ablenkung,
Sarah Crossan: Verheizte Herzen
darum habe ich mir Anna Karenina von meiner
Mutter geliehen und erlaube mir erst zu weinen,
wenn ich damit durch bin.“
Zwei erste Sätze, die ich mag. Wegen der ungewöhnlichen Erzählform in Versen entscheide ich mich für „Verheizte Herzen” von Sarah Crossan. „Boy meets Girl” (so fängt es immer an, oder?) von Julia Holbe setze ich auf meine Wunschliste.
Ich mache es mir in einem Sessel gemütlich. Auf keinen Fall jetzt schon in die Waagerechte, schlafen kann ich zuhause (nicht). Die beiden fluffigen Muffins, die mir die Buchhandlung bereitgestellt hat, schmecken köstlich. Das Tempo von Crossans Sätzen sorgt für rasanten Lesefluss. Der heimliche Geliebte einer verheirateten Anwältin und Mutter stirbt. Ana ist allein mit ihren Qualen und sucht die Nähe zur Ehefrau ihrer Affäre. Leider verliert die Geschichte im letzten Drittel ein wenig von ihrem Reiz. Da hat mich der Ehrgeiz aber längst gepackt, die 272 Seiten schaffe ich. In jedem Fall ein gutes Buch für eine mittellange Zugfahrt.
Direkt im Anschluss an einen Roman beginne ich nie einen neuen. Ich greife also zur Kolumnensammlung „Kummer aller Art“ der Bestsellerautorin Mariana Leky. Drei bis vier Seiten lang sind die tollen Texte, die um Traurigkeit kreisen und trotzdem glücklich machen. Als ich das Licht lösche, ist die Geisterstunde längst vorbei. Es scheint, als würde ich inmitten meiner Heldinnen und Helden allein bleiben in dieser Nacht.
Es ist kurz vor sieben Uhr, als ich am nächsten Morgen erwache. So ein Glück! Besser als abends vor dem Einschlafen ein gutes Buch zu lesen, ist nämlich nur, morgens nach dem Aufwachen noch eine Stunde im Bett zu lesen. Auf geht´s. Zum Paradies.
Text: Leonie Ratje · Fotos: Volker Schimkus