Foto: Volker Schimkus
Ihr Revier kennt die Jägerin wie die berühmte Westentasche. Sie nimmt jede Veränderung in der Umgebung wahr.

Lust und Langmut auf der Pirsch

Foto oben: Wer auf die Jagd geht, braucht Geduld. Es vergehen Tage, ehe sie den Bock an einem frühen Sonntagmorgen ins Visier nehmen kann.

Das große Warten beginnt im Sonnenaufgangsklischee. Die Jägerin wartet auf den Rehbock. Der Fotograf auf das perfekte Motiv. Die Reporterin auf den einen Moment. Eine Übung in Geduld, eine Lektion gleichsam. „So ein Bock will angesessen werden“, sagt Julia Seefried. Die Jägerin als Prophetin. Es sollen Tage vergehen, bis sie abdrückt.

In der Dämmerung des frühen Morgens setzt Julia Seefried den Rucksack auf und hängt sich das Gewehr des Großvaters über die rechte Schulter. Über Maisfeld und Wiese stapft sie los. Die braunen Hosenbeine sind nass vom Tau des hohen Grases, als die Jägerin auf den Hochsitz im Asseler Moor klettert. „Aufbaumen“ heißt das im Jägerjargon.

Ein alter Polsterstuhl und ein ausrangierter Bürodrehstuhl stehen in dem engen Holzverschlag. Luxus? Fehlanzeige! Die Jägerin öffnet die einfachen Fensterklappen zu allen vier Seiten, legt ein kariertes Kissen mit Rehbock-Motiv in den Fensterrahmen und stellt ihr Fernglas daneben. Dann lädt sie ihr Gewehr. Der Wind steht günstig. Er treibt den Geruch der Jägerin weg. „Wenn sie mich wittern, kommen die Tiere nicht raus“, sagt sie.

Wer auf die Jagd geht, braucht Geduld. Es vergehen Tage, ehe sie den Bock an einem frühen Sonntagmorgen ins Visier nehmen kann.
Wer auf die Jagd geht, braucht Geduld. Es vergehen Tage, ehe sie den Bock an einem frühen Sonntagmorgen ins Visier nehmen kann.

Julia Seefried ist Juristin im niedersächsischen Kultusministerium. Vier Tage in der Woche arbeitet sie zuhause im Homeoffice, Mittwoch ist Hannover-Tag. Ein- bis zweimal in der Woche schafft sie es zur Bockjagd raus auf den Hochsitz, meist abends, nach Feierabend. Ihr Diensthandy nimmt sie niemals mit. „Ich kann hier stundenlang sitzen und gucken. Das entschleunigt, ist super gegen den Stress des Alltags.“ Natur als Ausgleich zu langen Bürotagen. Sie genießt die Ruhe; vor allem die innere.

Still ist es in der Asseler Feldmark jedenfalls nicht. Kröten quaken, Vögel zwitschern, das hohe Wiesengras raschelt im Wind, irgendwo ruft ein Kuckuck. Zwei Bussarde sitzen auf Zaunpfählen und halten Ausschau nach Mäusen. „Die sitzen da immer“, sagt Julia Seefried. Man kennt sich.

Den Bock, den die Jägerin ins Visier nehmen möchte, hat Tochter Marie, 10, entdeckt. Sie begleitet ihre Mutter häufig auf den Hochsitz. Mutter-Tochter-Qualitätszeit als Teil des Jagdglücks. Der Jährling kam über den alten verwilderten Obsthof und hat sich hinter einem Busch niedergelegt. Direkt vor dem Hochsitz, aber gut verborgen. „Wir wussten, wo er ist, aber ich hatte keine Chance, anzulegen“, erzählt Julia See-fried. Als es dunkel wurde, sind sie nach Hause gefahren.

Einst waren Jagen und Fischen notwendig, um das menschliche Überleben zu sichern. Verbesserte Werkzeuge und Techniken steigerten im Laufe der Jahre die Effizienz. Heute holt sich Julia Seefried bei der Jagd ein wenig Ursprünglichkeit in die Hektik des Alltags. Dabei geht es um weit mehr als das Erlegen von Tieren. Auf dem Acker haben die Jäger Wildblumenmischungen ausgesät, damit die Fasane mehr Futter finden. Vielerorts im Revier legen sie Grünstreifen an, um die Artenvielfalt zu fördern. Außerdem kümmert sich die Jagd um ein ausgeglichenes Räuber-Beute-Verhältnis im Revier. Vor allem Füchse, Marder und Dachse gefährden unter anderem geschützte Vogelarten und werden darum gezielt erlegt.

Im Frühsommer hat die Stader Kreisjägerschaft überdies mehr als 800 Rehkitze gerettet. 

Sie werden im Mai und Juni geboren und von den Ricken im hohen Gras versteckt. Zur selben Zeit beginnen viele Landwirte mit dem ersten Wiesenschnitt. Die Digitalisierung steigert auch hier die Effizienz. Statt wie früher in langen Reihen durch das Gras zu streifen, fliegt für die Jägerinnen und Jäger eine Drohne mit Wärmebildkamera über die Felder. Die Bilder zeigen, wo der Nachwuchs liegt. Ein Jäger rettet dann womöglich ein Rehkitz, das er bald darauf schießen wird.

Um Rehkitze zu retten oder die Natur zu genießen, braucht Julia Seefried freilich weder Jagdschein noch Gewehr. Als Jägerin erlegt sie Tiere, die sie selbst verwertet. Das Jagdfieber hat Julia Seefried schon früh gepackt. Als Kind saß sie mit ihrem Vater und Großvater in Neustadt am Rübenberge auf dem Hochsitz, mit 16 hat sie ihren Jagdschein gemacht. Ihre erste Schrotflinte hat sie vom Konfirmationsgeld gekauft. Und während des Studiums hat sie auf dem Hochsitz gelernt.

Mehr als 400.000 Menschen haben laut Deutschem Jagdverband in Deutschland einen Jagdschein. Allein in Niedersachsen leben 60.000 Jägerinnen und Jäger. Im Landkreis Stade haben in diesem Jahr 1000 Menschen ihren Jagdschein verlängern lassen. Außerdem haben Ende März 40 Jägerinnen und Jäger ihre Jagdprüfungen bestanden. Knapp 3.000 Euro kostet ein Jagdschein. „Als ich ihn damals gemacht habe, war nur eine weitere Frau in dem Kurs“, erinnert sich Julia Seefried. Der Frauenanteil in der Jagd liegt heute bundesweit bei rund elf Prozent. Im Landkreis Stade sind 50 Prozent weiblich. Julia Seefried ist seit März auch im Vorstand der Kreisjägerschaft als Schriftführerin und Pressesprecherin aktiv. „Das macht Spaß und ich genieße die tieferen Einblicke.“

Wer an Drück- oder Treibjagden teilnehmen möchte, muss außerdem jährlich einen Schießnachweis auf dem Kugel-Schießstand erbringen. Bevor im Mai nach der Schonzeit die Bockjagd losgeht, holt auch Julia Seefried ihr Gewehr aus dem Waffenschrank und übt auf dem Schießstand. „Es ist sinnvoll, das Gewehr Probe zu schießen und zu checken, ob noch alles stimmt am Zielfernrohr.“

Auf der anderen Seite einer Straße, die die Weidenlandschaft durchkreuzt, beginnt gegen halb sieben ein Landwirt zu mähen. Seinem Trecker folgt ein Schwarm Möwen, ganz wild auf die aufgeschreckte Beute. Ein Fasan stolziert über die Wiese. An der Baumreihe vor dem Asseler Moor erspäht Julia Seefried „zwei Stück Rehwild“. Vom Treckerkrach lassen sie sich nicht stören. Und von Julia Seefrieds Gewehr geht keine Gefahr für sie aus. Die Jägerin ist zu weit entfernt. 100 Meter seien eine gute Schussentfernung, sagt sie.

Die Jahresabschlusspläne für das Rehwild in ihrem rund 1600 Hektar großen Revier erhält die Asseler Jagdgemeinschaft vom Landkreis Stade. Wildschweine gibt es hier nicht; „die ziehen höchstens mal durch“, sagt Julia Seefried. Je 45 Stück weibliches und männliches Rehwild darf die Jagdgemeinschaft binnen drei Jahren schießen. Fallwild etwa durch Verkehrsunfälle mindert die Abschussquote.

Wie die Jägerin auf dem Hochsitz sitzen die Bussarde weiter ungerührt auf ihren Zaunpfählen. Ein Fasan krakelt heiser. Julia Seefried lacht. „Der hat sich gestern Abend verausgabt.“ Die Jägerin kennt ihr Revier wie die berühmte Westentasche; vor allem hier, rund um ihren Lieblingshochsitz, nimmt sie jede Veränderung wahr. „Es geht darum, Muster zu erkennen.“ Gut möglich, dass der junge Bock an diesem Morgen in dem hohen Gras liegt, nur wenige Meter von der Jägerin und ihrem Gewehr entfernt. Oder aber er befindet sich nicht einmal in der Nähe. Wer auf den Hochsitz klettert, braucht Langmut. Ansitzen und Loslassen, alles ist jetzt. An Julia Seefrieds Fernglas krabbelt eine kleine Schnecke hinauf. Eine Hornisse summt um den Jägerstuhl herum. 

Während schwere Wolken den Himmel verdunkeln, erwacht im Dorf allmählich das Leben. Fahrräder und Autos fahren auf den Feldwegen vorbei. Julia Seefried packt ihre Sachen zusammen. Für heute bleibt die Kugel im Lauf.

In den nächsten Tagen kehrt Julia Seefried mehrmals auf den Hochsitz zurück. Manchmal sieht sie „ihren“ Bock in der Ferne. 

Im dichten Nebel eines Sonntagmorgens bricht die Jägerin um 4:40 Uhr auf. Sie hat gerade das Gewehr auf dem Kissen im Fensterrahmen abgelegt, als ein schwarzes Schmalreh auf die Wiese tritt. Julia Seefried wartet. Und tatsächlich, er kommt. Wie zum Gruße blickt er kurz in ihre Richtung, dann beginnt er zu äsen. 

Die Jägerin legt an. Die linke Hand am Vorderschaft, den rechten Zeigefinger am Abzug. 75 Meter. Sie atmet tief. Ein. Aus. Noch einmal ein. Sie drückt ab. Ihre Kugel durchschneidet die Luft. Wenn sie unterwegs ist, ist sie unterwegs. 800 Meter pro Sekunde. Ein lauter Knall, der Rehbock liegt.

Um 5:27 Uhr ruft Julia Seefried zuhause an. Sie braucht Hilfe, um den 18 Kilogramm schweren Bock in die Kühlkammer zu bekommen. Jetzt beginnt die Arbeit. Noch auf dem Feld bricht die Jägerin ihn auf. Sie öffnet die Bauchhöhle, trennt den Brustkorb auf, um die inneren Organe zu entnehmen. Das Herz nimmt sie mit. Der saubere Blattschuss ist durch die Rippen wieder ausgetreten. Die Kugel hat die Leber gestreift, sie ist ungenießbar. Julia Seefried vergräbt die Innereien. In einer Wanne tragen sie und ihr Mann den Bock zum Auto. Was sie schießt, verarbeitet Julia Seefried selbst.

Drei Tage hängt der Bock bei eisigen Temperaturen in der Kühlkammer. Bevor die Jägerin ihn zerlegt, backt sie Rhabarber-Kuchen. Das Obst in der Tiefkühltruhe muss dem Bio-Fleisch weichen. In der Kühlkammer packt Julia Seefried Blätter, Keulen und den Rehrücken in Tiefkühltüten, die ihre Tochter sorgfältig beschriftet. Was sie mit dem Fleisch macht, entscheidet die Jägerin später. In der Jagdzeitschrift seien immer tolle Rezepte. „Es ist auf jeden Fall etwas anderes, Fleisch zu essen, das man selbst erlegt hat.“

Deichlust

Text: Leonie Ratje · Fotos: Volker Schimkus