„Klingelingeling, Klinge- lingeling. Hier kommt der Eiermann“ — Die rollen- den Händler sind zurück. Was einst der Eiermann mit seinem Klingelruf war, ist heute Öko-Ulli: ein mobiler Bio-Supermarkt, der seine Kunden auf vier Rädern versorgt. Mit über tausend Bio-Produkten, einem festen Kunden- stamm und einem Hup- Signal als Erkennungs- zeichen liefert er seit Jahrzehnten Lebensmittel direkt vor die Haustür. Auf Verkaufstour durchs Alte Land.
Geschickt manövriert Ulrich Griener – oder besser: Öko-Ulli, wie er liebevoll von seinen Kunden genannt wird – seinen Verkaufswagen an den Straßenrand in einer Nebenstraße in Hollern Twielenfleth. Bevor er drei Mal hupen kann, steht auch schon Marie Münch mit Tochter Millie (3) und jeder Menge Einkaufstaschen in seinem zwölf Quadratmeter großen Supermarkt und beginnt ihren Wocheneinkauf. Nudeln, Aufschnitt, Tomatensoße… „Mama, können wir noch…“, rufen ihre beiden Söhne von hinten und drängeln sich in den Mercedes Vario von Ulli. Zielgerichtet steuern sie das Keksregal an: Honigwaffeln, Cookies mit Zartbitterschokolade, Schokopralinen, Knusperbutterbrezeln, Doppelkeks mit Kakaocreme und – Treffer: Schokowaffeln. Gefunden. „Dürfen wir?“. Sie dürfen. Der Schokowaffel-Abstecher endet mit einem „Tschüß Ulli“, schon rennen die Jungs wieder in den Garten. Der erste Einkaufskorb ist mittlerweile voll. Das Werk von Mama Marie und Tochter Millie. „Pesto, Mama“, ruft die Dreijährige. Marie Münch durchsucht das volle Regal mit den Brotaufstrichen, Pestos und Dips. Währenddessen beginnt der rollende Kaufmann die ersten Waren zu kassieren. „Ich habe auch Vollkornnudeln, oder sollen es die Hellen sein?“, fragt Ulli seine Kundin, als er die Weizennudeln im Korb sieht. Sollen sie nicht.

Kundenservice ist, wenn er die richtige Nudelsorte kennt
Ulli verlässt den Einquadratmeter-Kassenbereich, um neue Nudeln im hinteren Teil des Wagens zu holen. Er dreht sich seitlich, Marie hebt kurz die Arme, um Platz zu schaffen. Für einen Moment wird es eng, dann schieben sie sich mit einer fließenden Bewegung aneinander vorbei. Und retour. Mit den Dinkelspirellis im Gepäck.
Die Lieferung von Lebensmitteln bis vor die Haustür hat eine lange Tradition. Schon früher brachten Bäcker frische Brötchen, Milchflaschen wurden vor die Tür gestellt, Landwirte lieferten Kartoffeln, und der Getränkehändler sorgte für volle Vorratsräume. Heute erlebt das Konzept der mobilen Verkaufsstellen eine Renaissance. Bundesweit sollen rund 2.000 rollende Lebensmittelhändler unterwegs sein, die wöchentlich etwa eine Million Kundenkontakte haben. Besonders in ländlichen Gebieten und Stadtrandlagen schließen sie Versorgungslücken und bieten eine persönliche Einkaufserfahrung, die stationäre Supermärkte oft nicht mehr leisten können. Der Fachverband „Mobile Verkaufsstellen“ zählt mittlerweile 350 Mitglieder – vom kleinen Einpersonenbetrieb bis hin zu Unternehmen mit über 60 Fahrzeugen und Millionenumsätzen. Dem Landkreis Stade liegen leider keine Zahlen für den Kreis vor.
„Haben Sie Frischkäse an Bord?“, ruft eine Frau von draußen durchs Fahrerfenster. Wieder drängt sich Ulli an Marie vorbei, bis er ganz hinten vorm Kühlregal steht. Er schnappt sich zwei Frischkäsepackungen und läuft durch die Seitentür um seinen Supermarkt herum. Die ältere Dame entscheidet sich für eins der beiden Produkte, bezahlt und verstaut den Käse in ihrem Rollator. Den rollenden Kaufmann kannte sie noch nicht. Den findet sie fortan jetzt aber super. Sie wohnt gleich schräg gegenüber. Marie Münch dagegen kennt Öko-Ulli schon fast ihr ganzes Leben. Seit 40 Jahren kommt er zu ihr nach Hause. Vor die Tür. Früher zu ihren Eltern, heute zu ihr und ihrem Mann. Es sei ein nettes Einkaufen direkt vor der Tür, meint sie. „Mit vier Kindern ist das echt praktisch“. Die Vierfachmama kauft generell nur Bioprodukte.
Bei Ulli bekommt sie alles. Denn bei Öko-Ulli ist alles bio
Außer Salz und Wasser. „Bio-Salz gibt es ja gar nicht“, so der Ökologe. Alle anderen Produkte – weit über Tausend hat er in seinem rollenden Tante-Emma-Laden – tragen das Biosiegel, manche sogar nach Demeter-Standards. Es gibt fast nichts, was der rollende Kaufmann nicht in seinem Sortiment hat: Obst und Gemüse, Backwaren, Molkereiprodukte, Fleisch & Wurst, Fisch und Meeresfrüchte, Getränke, Tiefkühlprodukte, Trockenwaren, Süßwaren und Snacks, Konserven und Eingemachtes, Fertiggerichte und Convenience, Gewürze und Saucen, Haushaltswaren, Drogerie und Kosmetik und sogar Tiernahrung. Obst und Gemüse kommen oft vom eigenen Hof in Oederquart, alle anderen Waren bezieht der 64-Jährige einmal in der Woche von einem Bio-Großhandel. Marie Münch legt noch Kekse auf den Klapptresen. Fertig.
Zweihundert Euro kostet ihr Wocheneinkauf. Mit der Tochter an der einen und der ersten Tasche in der anderen Hand geht sie zum Haus. Ulli schnappt sich die restlichen Tüten und kommt hinterher.
Kundenservice ist, wenn er ihr die Einkäufe ins Haus bringt
Seit 1983 fährt Ulrich Griener mit seinen Produkten direkt vor die Haustür. Wer will, meldet sich und erhält einen Stopp auf seiner Route. Zehn Jahre mussten seine Kunden mal ohne ihn auskommen. Die Liebe zu einer Frau brachte ihn nach Osnabrück, die Liebe zu Bioprodukten brachten ihn dort zu einem eigenen Bioladen. Doch die Beziehung scheiterte und der Kehdinger kehrte nach Oederquart zurück. Jetzt fährt er seine Produkte wieder aus. Auch wenn er ab und an noch von seinem eigenen Laden träumt. Doch die guten Standorte seien besetzt. Und irgendwie sei das doch auch gut so, wie es ist. Seine Freundin ermahnt ihn immer, nicht zu viel zu arbeiten. „Reich bin ich nicht geworden, jetzt bin ich so alt, da werde ich es auch nicht mehr.“


Nächste Station. Ariane Frey kauft eine große Handvoll Weintrauben. Die seien so lecker. „Dass Ulli vor die Tür gerollt kommt, ist schon netter Luxus.“ Heute bleibt es bei den Weintrauben. Ulli klappt den Verkaufstresen wieder hoch und schwingt sich auf den Fahrersitz. „Wir sind in sechs Minuten da“, plaudert er in sein Mobiltelefon.
Kundenservice ist, wenn er sich per SMS ankündigt
„Ist doch super, wenn die Kunden wissen, wann ich da bin“, so der Unternehmer. Dass er drei Mal hupt, gehört trotzdem dazu. Schon steht Joana zum Felde mit ihrem Sohn in der Tür. Sie gehört erst seit letztem Jahr zu seinen Kundinnen. Seit es keinen Biostand mehr auf dem Wochenmarkt gibt, erzählt sie. Ihr Blick durchforstet Regal für Regal. Sie hat keinen Einkaufszettel, sondern kauft, was ihr gefällt. Der Korb füllt sich. Jetzt noch „das Geheimfach.“
Ulli drückt einen Knopf und die Abdeckung vom Kühlregal fährt hoch. „Gerade Frischware geht immer sehr gut“, erzählt Ulli. Er hat alle Produkte im Blick. Weiß, was er nachkaufen oder wo er den Preis reduzieren muss, weil das Haltbarkeitsdatum bald überschritten wird.
Der rollende Kaufmann ist ein Ein-Mann-Betrieb. Dienstags fährt er durch Oldendorf bis Himmelpforten, mittwochs in die Wingst, donnerstags durch Stade und Apensen. Freitags über Hollern Twielenfleth und Steinkirchen bis nach Jork.
Wer nicht da ist, bekommt seine Ware vor die Tür gelegt
Ulrich Griener parkt seinen Wagen in der Einfahrt eines großen Hollerner Hofes. Auf sein Hupen reagiert keiner. „Die Heike ist gar nicht da, dabei hat die doch Brot bestellt.“ Ulli sucht das Brot heraus, noch Milch und den Lieblingsjoghurt, und drapiert alles vor der Haustür. Bezahlen kann sie nächstes Mal. Auf nach Steinkirchen. Heike Eckerich ist seit 25 Jahren Kundin bei Ulli. Chili sin Carne, Tee, Joghurt, Kartoffeln, Dinkelbrötchen, Weintrauben. Croissants bestellt sie für nächste Woche. „Ich kaufe Produkte, die ich woanders nicht so kriege“.
Am nächsten Halt öffnet wieder keiner die Tür. Sechs Joghurts, eine Gurke, zwei Paprika, zwei Kohlrabi. Ulli legt alles auf den Fenstersims. In dem Moment kommt Felix Heinrich um die Ecke. Er strahlt. „Ich find das einfach cool, dass er das macht“, schwärmt er von Öko-Ulli. „Ich erinnere mich noch, dass in meiner Kindheit ein Bäckerwagen von Dorf zu Dorf fuhr.“ Für Felix Heinrich ist der rollende Kaufmann ein Stück Nostalgie. Heute kostet sie ihn 23 Euro.
Teuer sind Ullis Waren nicht. Aber Bioqualität hat seinen Preis. Er schätzt, dass seine Kunden rund drei bis fünf Prozent mehr zahlen müssten als marktüblich. Dafür sparen sie sich die Fahrtwege. Öko-Ulli hat andere überzeugende Argumente: „Wer guckt schon auf den Preis bei so einem netten Verkäufer.“

Text: Mona Adams · Fotos: Volker Schimkus