Spurensuche im Untergrund-Krankenhaus in Stade – die unsichere Weltlage wirft Fragen auf
Wie ein verborgener Tempel des Überlebens liegt sie da, zwei Meter unter meterdickem Stahlbeton: eine unterirdische Klinik, verborgen mitten im Kreis Stade, geschaffen für den Krisenfall. Für über 200 Menschen eine medizinische Versorgung unter der Erde, abgeschirmt von der Außenwelt. Ein Monument der Vorsorge, ein Mahnmal politischer Unsicherheit. Kein Lost Place, denn das ehemalige Untergrundkrankenhaus wird instand gehalten. Für alle Fälle?
Die Luft ist kühl und riecht nach Metall und altem Beton. Mitten auf dem Gelände der Rettungsleitstelle im Stader Stadtteil Wiepenkathen führt eine zehn Meter lange Rampe zu einer hohen massiven Stahltür, die nicht erahnen lässt, was sich dahinter verbirgt. In den moderat beheizten Gängen herrscht steriles, künstliches Licht, das auf versiegelte Versorgungsräume fällt. Fünf Operationssäle, Schlafsäle mit über 200 Betten, bedeckt mit kratzigen Bundeswehr-Wolldecken aus den Schzigerjahren, stehen im Halbdunkel. In den Lagerräumen medizinische Geräte, versiegelt in Folie, als hätten sie nie die Zeit berührt. In den düster anmutenden Räumen stehen OP-Tische, gynäkologische Stühle und Beatmungsgeräte, mit einem schlichten, beklemmenden Vermerk: handbedient – für den schlimmsten aller Fälle.
Schmutz- und Keimschleusen trennen die Außenwelt von diesem Ort, an dessen Mauern die Schatten der Vergangenheit haften. Großküche, Toiletten, Duschräume und in Metallkisten verpacktes medizinisches Gerät, alles noch da. Ein Knochenbohrgerät mit Handkurbel, OP-Besteck, Spritzen, Verbandsmaterial. Im Notfall hätten Abwasser und Fäkalien per Handkurbel in die Kanalisation gepumpt werden können. Die Wasserversorgung ist aus einem 38 Meter tiefen Brunnen gesichert.
7,6 Millionen D-Mark kostete dieses Bollwerk im Untergrund, Baubeginn war im Jahre 1984 – in einer Zeit, in der die Menschen sich noch nicht in einem vereinten Europa sicher glaubten, in dem Deutschland noch geteilt war. Doch bereits bei der Fertigstellung im Jahre 1990 hatte sich die Welt verändert, der Kalte Krieg zwischen Ost und West schien vorbei. Deutschland lag im Wiedervereinigungs-Freudentaumel, im Untergrund-Bunker musste nie ein Patient behandelt werden.
Doch heute ist die Weltlage wieder eine andere, die Beziehungen zwischen West und Ost sind fragil, zwei Despoten sind an der Macht. War es deshalb vorausschauend gut, dass dieses Untergrund-Krankenhaus nie ganz aufgegeben wurde?
„Ja und Nein“, sagt Landrat Kai Seefried. Als Notfall-Klinik seien die Bunker-Räume alleine schon wegen der mangelnden technischen Ausstattung längst nicht mehr zu nutzen. Auch nicht im schlimmsten Notfall. Die noch eingelagerten alten medizinischen Geräte seien nicht mehr als museumsreife Zeitzeugen, sagt See-fried.
Gleichwohl sei es richtig gewesen, dass der Landkreis 2009 das mittlerweile zu einem Schutzraum umgewidmete Krankenhaus übernahm, damals ohne langfristiges Nutzungskonzept. Weil der hochwertige Keller als Lagerraum gut zu nutzen sei, vermietete der Kreis Räumlichkeiten für das Akten-Archiv der Elbe-Kliniken, von den Mieteinnahmen können die Unterhaltungskosten beglichen werden.
Kai Seefried betont: „Wir sind froh, dass wir diese Räume haben.“ Nicht nur, weil sie immer wieder für Übungen beim Katastrophenschutz geeignet seien, sondern auch, weil sich die Sicherheitslage seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine in Europa verändert habe. Das hat unter anderem dazu geführt, dass es einen „Operationsplan Deutschland“ gibt, den die Bundesregierung vor einem Jahr aufgelegt hat und der Teil eines Nato-Konzeptes für die schnelle Verlegung von Truppen nach Osteuropa ist. Deutschland hat dafür die Rolle einer logistischen Drehscheibe übernommen. Der geheime Plan soll regeln, wenn der Bündnis- oder Verteidigungsfall eintritt, für den Deutschland nicht ausreichend vorbereitet ist. Von beispielsweise ursprünglich 2.000 öffentlichen Schutzräumen sind derzeit nur noch 579 nutzbar. Stade gehört nicht dazu. Noch nicht?
Kai Seefried: „Konkrete Planungen gibt es nicht, und ich hoffe auch, dass wir niemals über eine Notfall-Nutzung für die Bevölkerung nachdenken müssen.“ Dass die Räume aber im Krisenfall jedweder Art für ein Lagezentrum genutzt werden können, sei zumindest eine Überlegung.
Wäre eine Verwendung als Schutzraum möglich? „Nicht vorstellbar“, sagt der Landrat, der die unlösbare Gegenfrage stellt: „Wer sollte die rund 300 Personen aus den über 210.000 Einwohnern des Landkreises auswählen, die dort im Krisenfall untergebracht werden könnten?“

Text: Wolfgang Stephan · Fotos: Volker Schimkus