KOLUMNE: HIER SCHREIBT DIE JOURNALISTIN UND MUTTER
Meine Kinder habe ich spontan geboren, sagt mein Mutterpass. Selten war ein Adjektiv weniger treffend. Ich mag im Kreißsaal zwar einem plötzlichen inneren Antrieb gefolgt sein – wenn man qualvolle Schmerzen so nennen mag – aus freien Stücken oder im Überschwang ist da allerdings wenig geschehen. Wie gern hätte ich den Geburtsvorgang spontan gestoppt! Spätestens als ich unten ein Baby aus mir herauspresste und mich oben schwallartig übergab. Aber ich schweife ab.
Bevor ich meine Kinder gebären konnte, haben wir sie gezeugt. Spontan war das auch nicht, aber deutlich freudvoller. Die wichtigste Frage nach Verkündung der frohen Botschaft lautete jeweils: Wird es ein Mädchen oder ein Junge?
Ich habe zwei Söhne. Der jüngere wurde soeben eingeschult. Stolz zeigt er mir seinen Platz im Klassenraum. Ich blicke mich um. Sehe die vielen kleinen Stühle. Wo sitzen die Kinder, die sexuell missbraucht werden?
Tränen in der Grundschule
Bei einem Elternabend früher im Jahr wurde ein Präventionsprojekt gegen sexualisierte Gewalt an Kindern vorgestellt. Im Anschluss sprach eine Mitarbeiterin der Buxtehuder Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt, „Lichtblick“ zu uns. Ich habe geweint und gelernt. Wie ich mich im Falle des undenkbaren Falles zum Wohle meines Kindes verhalten sollte. Dass es leider ganz normal ist, dass sich unsere Kinder uns nicht anvertrauen. Weil sie die, die sie am meisten lieben, schützen wollen. Weil sie Angst vor Bestrafung haben.
Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass bis zu eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland sexuelle Gewalt durch Erwachsene erfahren mussten oder erfahren. Statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse ein oder zwei betroffene Kinder. Ich kenne ein ganz zauberhaftes Mädchen, das vor drei Jahren von dem Vater einer Schulfreundin missbraucht wurde. Eine kleine Seele, zerstört von einem pädophilen Gewaltverbrecher.
Täter sind männlich, Opfer sind weiblich
Der Albtraum endet nicht mit dem Schulabschluss. Die polizeiliche Kriminalstatistik aus dem Jahr 2023 listet 39.029 angezeigte Fälle von sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Niemand fragt nach dem Geschlecht. Weil wir die Antwort kennen. 97,8 Prozent der Tatverdächtigen sind männlich, 91,9 Prozent der Opfer weiblich. Bei Straftaten gegen das Leben sieht es ähnlich aus. An nahezu jedem Tag versucht in diesem Land ein Mann, eine Frau umzubringen. An jedem zweiten gelingt es einem.
Mädchen werden in der Annahme groß, dass von Männern Gefahr ausgeht. Sie lernen, sich anzupassen, sich in der Rolle des „schwachen Geschlechts“ zurechtzufinden. Opfer sexueller Gewalt suchen die Schuld bei sich, weil ihr Rock zu kurz, ihre Drinks zu stark oder ihr Tanz zu aufreizend war.
Wann ist der richtige Zeitpunkt für ein Handy?
Mein Großer ist gerade neun Jahre alt geworden. Über ein Handy hätte er sich gefreut. Wir haben den Deal, dass es zum 14. Geburtstag eines gibt. Ich vermute, das Thema wird uns deutlich früher wieder begegnen. Laut Statistischem Bundesamt besitzen 21 Prozent der Sechs- bis Neunjährigen ein Smartphone. Bei den Zehn- bis Zwölfjährigen sind es 82 Prozent.
Bei dem Elternabend damals in der Grundschule ging es auch um Medienkonsum. Mit dem Smartphone würden wir unseren Kindern das Tor zu einer Parallelwelt öffnen, sagte die Expertin. Eine Welt, zu der ich keinen Zutritt habe. Ich habe Angst vor Pädophilen in Game-Chats. Vor Videos in sozialen Netzwerken, die (sexualisierte) Gewalt zeigen, männliches Dominanzgebaren und Mädchen, die alles tun, um Jungs zu gefallen. Weil das, was mein Sohn dort sehen könnte, nicht im Digitalen bleibt. Studien belegen, dass Menschen, die viele Pornos schauen, Frauen häufiger zu Objekten degradieren und sexuelle Gewalt an ihnen eher akzeptieren. Online kommt jedes vierte Kind unter zehn Jahren bereits mit pornografischen Inhalten in Kontakt. Mein Sohn kann keine Schleife binden, aber womöglich sieht er Hardcore-Pornos. Weder sein Geist noch seine Seele ist bereit für den Umgang damit.
Überall toxische Männlichkeit. Alles hat mit allem zu tun. Bei einem Fußballspiel ermuntert ein Vater seinen Sohn zu einem Dribbling mit dem Worten: „Geh vorbei, das ist nur ein Mädchen!“ Eine Frau begeht mit einem Schwangerschaftsabbruch eine Straftat. Mein Sohn wird beim Füllerkauf darauf hingewiesen, dass Rosa eine Mädchenfarbe sei. In der medizinischen Forschung sind Frauen unterrepräsentiert, mit lebensgefährlichen Folgen. Zwölfjährige Mädchen wetteifern bei TikTok-Challenges darum, wer als erstes ein Dickpic zugeschickt bekommt. Eine Untersuchung der Dublin City University zeigt, dass es 23 Minuten dauert, bis ein Teenagerjunge, der sich bei TikTok anmeldet, misogyne Inhalte angezeigt bekommt. Frauen verdienen weniger Geld als Männer. Ich könnte ewig so weitermachen.
Zurück zu den Spontangeburten
Dass ich – gegen jedes Gesetz der Schwerkraft – in Rückenlage entbunden habe, verdanke ich vermutlich Ludwig XIV. Der fand es Ende des 17. Jahrhunderts nämlich obergeil, seiner Geliebten bei der Entbindung zuzusehen. Weil er freie Sicht auf das Geschehen haben wollte, verfügte er, dass sich die Frauen auf den Rücken legten, statt stehend oder sitzend zu gebären wie zuvor üblich. Patriarchat in Reinkultur. Immer wenn ich denke, dass Männer sich unmöglich noch mehr Tyrannei und Schwachsinn einfallen lassen können, um ihre Macht über Frauen(-körper) zu demonstrieren, um ihre Deutungshoheit zu festigen, beweist irgend so ein Sonnenkönig das Gegenteil.
Heute kommt die Geschlechter-Ungerechtigkeit freilich viel besser getarnt daher. Häufig erkennen wir die patriarchalen Strukturen, die uns im Alltag umgeben, kaum. Ich möchte meinen Söhnen helfen, sie zu sehen. Weil in Erkenntnis der erste Schritt zur Besserung liegt. Weil ich glaube, dass große Dinge im Kleinen ihren Ursprung haben.
➤ Leonie Ratje ist Journalistin, Mutter zweier Kinder und schreibt für die DEICHLUST.
Text: Leonie Ratje