Die Entrüstung kommt von Herzen: „Um Gotteswillen, nein, niemals“, sagt Elli Mohr mit leichter Verstimmung. Dabei wollte ich nur wissen, wann sie letztmalig ein Kleidungsstück außerhalb des eigenen Geschäftes gekauft habe. Auch Volker Mohr scheint die Frage despektierlich zu finden. Nur Julius Mohr lässt erkennen, dass er schon mal fremdgegangen ist. Was in Zukunft aber nicht mehr passieren wird, denn der 27-Jährige hat seit Monatsbeginn seinen Traumjob: Als Mitglied der Geschäftsleitung bei Mohr in Dollern. Nicht nur wegen seiner Lage ein Unikat in der Branche.
Eine DEICHLUST-Foto-Reportage mit drei Generationen – um das überhaupt zu bewerkstelligen, ist sanfte Überzeugungsarbeit gefragt, denn die Mohrs gehören zu den zurückhaltenden Menschen, die sich lieber in der zweiten Reihe sehen. Aber die gibt es nun einmal nicht in einem Unternehmen, das seit 75 Jahren den Familiennamen trägt und in dem die Familie eine immens große Rolle spielt. Dass Sohn Julius in die Fußstapfen des Ur-Großvaters getreten und neben der kaufmännischen Führung des Unternehmens auch für Marketing und Aus- und Weiterbildung zuständig ist, gehört schon jetzt zum besonderen Glück der Inhaberfamilie. „Das berührt mich sehr, ich bin glücklich und dankbar“, sagt die 88-jährige Seniorin Elli mit feuchten Augen, was Beke und Volker Mohr gerührt zur Kenntnis nehmen. „Wir können uns das besser nicht vorstellen“, sagt die Firmenchefin zur Entscheidung des Sohnes. Wobei der ganz ungerührt feststellt: „Ich wollte schon immer hier arbeiten und einmal das Unternehmen fortführen.“
Hier arbeiten: Das ist ein Arbeitsplatz, der in einem hochwertigen Branchenbildband der Textilwirtschaft von prämierten Modehäusern zwischen dem Louis Vuitton Maison Vendome in Paris und dem Armani Shop in Mailand unter dem Titel „Neue Welt im Alten Land“ vorgestellt wird. An einem Standort, den der Firmenchef so einschätzt: „Heute würde keiner hier ein solches Haus eröffnen“, sagt Volker Mohr. In Dollern. „Aber wir sind aus historischen Gründen hier und denken nicht darüber nach, wo wir sind.” Dieser Standort biete viele Vorteile. „Wir sind super angebunden, sind direkt an der B73 und an der A26 gelegen und unsere Kunden können vor dem Haus kostenlos parken – ganz unkompliziert.”
Die Historie: „Mein späterer Ehemann Gerhard hat mir 1955 einen Versandhandel vorgestellt“, erinnert sich Elli Mohr, die aus der Lüneburger Heide der Liebe wegen in Dollern gelandet war. Die Großeltern der heutigen Inhaberfamilie kamen gebürtig aus dem Alten Land und wollten das elterliche Textilgeschäft in Steinkirchen nicht übernehmen. Sie sind nach Mecklenburg gezogen und haben dort ein Geschäft erworben. Später kam noch ein landwirtschaftlicher Betrieb dazu, vor allem Obstbau. Nach dem Krieg verließen die Großeltern wegen der russischen Willkür ihr Domizil und kamen mit den Kindern zurück in die alte Heimat. Der Großvater fuhr mit dem Rad über das Land und betrieb einen kleinen Handel, er hat vor allem Dinge getauscht, bis er von einem Landwirt die Möglichkeit bekam, ein Stück Land in Dollern zu kaufen. Die Geschäftsidee von Bodo Mohr und seiner Frau Gesine bestand aus einem Bettengeschäft. Letztlich ist aus dieser Idee dann ein Versandhandel mit einem kleinen Ladengeschäft entstanden. Mit dem Eintritt von Gerhard und Elli Mohr Mitte der 50er Jahre wurde das Sortiment um Berufs- und Sportbekleidung, Wäsche, Damen- und Herren-Oberbekleidung erweitert und der erste 42-seitige Versandkatalog erschien 1954 erstmals überregional. Bis zu 350 Beschäftigte arbeiteten damals in dem Versandhandel – der sich zu dieser Zeit in der Republik zum großen Hit entwickelte: Quelle, Otto, Schöpflin – alles große Namen der Branche. Anfang der 70er Jahre erfolgte unter der Führung von Gerhard und Elli Mohr die erfolgreiche Umstellung vom Versandhandel zum Einzelhandel. 1989 stieg Volker Mohr, danach auch seine Frau Beke, in das Unternehmen ein, das gemeinsam mit den Eltern Mitte der Neunzigerjahre um 4.500 Quadratmeter erweitert wurde. 2004 wurden 2.000 Quadratmeter Sport im Haupthaus inszeniert und das Unternehmen permanent weiterentwickelt. Dem Trend entsprechend wurden Ambiente und Sortiment ständig modernisiert, diverse neue Mode-Stilwelten geschaffen, die Gastronomie ausgebaut und weitere Partner ins Portfolio am Standort aufgenommen.
Also, auf zum Generationen-Rundgang im Modehaus. Modehaus? Falscher Begriff, sagt Beke Mohr. „Modehaus trifft uns nicht richtig.“ Aber doch nicht „Wohlfühlhaus“, wie Mohr sich jahrelang nannte? Auch falsch. „Viel zu altbacken“, findet die Chefin, die auch mit dem „Mode- und Lifestyle-Haus“ nicht ganz glücklich ist. Sie verweist auf den Jubiläums-Slogan: „Lifestyle, Mode, Menschen, Momente“, der im Jubiläumsjahr mit Leben erfüllt werden soll.
„Unser Anspruch geht über den Verkauf hinaus, wir wollen unseren Kunden ein Erlebnis bieten“, sagt Volker Mohr. Wer zu Mohr komme, komme gezielt. Julius Mohr untermauert die Aussage mit einer Zahl: „Unsere Conversion-Rate, die Kaufabschlussquote, liegt bei 50 Prozent, in der Branche bei 20 Prozent.“ Das bedeute: Jeder zweite Mohr-Kunde kaufe, was Volker Mohr auch dem Standort zuschreibt: Am Rande der Großstadt, am Alten Land gelegen, zwischen den Städten Stade und Buxtehude mit einem großen Hinterland. Eine Ausgangslage, die für Julius Mohr schlicht „Zukunft“ bedeutet. Dem stationären Einzelhandel schreibt der 27-Jährige eine Zukunft zu, trotz der Debatten die nach der Schließung der Kaufhaus-Läden entbrannt ist. Der Junior: „Wir wollen mehr sein als ein reiner Verkaufsort, wir sind Ort für Inspiration, wollen Erlebnisse schaffen, wir sind ein Treffpunkt für die Menschen der Region.“
Die Befürchtungen, dass der Online-Handel den stationären Handel ablösen werde, sehen die Mohrs nicht. „Es gibt eine Welt, in der beide Modelle funktionieren“, sagt Volker Mohr, der zwar einerseits einen Onlineshop eingerichtet hat, aber andererseits auf Beratungskompetenz der 240 Beschäftigten und dem sich ständig wandelnden Ambiente setzt. Und: Mohr nutzt die Daten seiner Kunden seit Jahren und wirbt viel mit den Direktansprachen über die diversen Medienkanäle. Beke Mohr: „Wir wissen, was unsere Kunden wollen.“
Gleichwohl gelte es, das Geschäft ständig mit neuen Impulsen und Ideen zu entwickeln: „Cooler machen“ nennt Julius Mohr diesen Anspruch, dem Zeitgeist auf 19.000 Quadratmetern eine weitere Spielwiese zu bereiten.
Die hatten die Mohr-Kinder (Bruder Clemens ist eineinhalb Jahre jünger und studiert Medizin) in ihrer Kindheit im Geschäft. „Mein zweites Zuhause“, erinnert sich Julius an seine Jugend im Kaufhaus mit Kinderkino und Rutsche und an seine ersten Verkaufserfolge als Ferienjobber in der Young Fashion-Abteilung, bevor er das Betriebswirtschaftsstudium in Mannheim begonnen hat, um danach bei Unternehmensberatungen und zwei Modeunternehmen in Süddeutschland als Assistent der Geschäftsführung Erfahrungen zu sammeln. „Eigentlich bin ich ein Großstadtmensch“, sagt der Juniorchef.
Bei Mohr in Dollern zu arbeiten, sieht er dennoch nicht als Widerspruch.
Text: Wolfgang Stephan · Fotos: Volker Schimkus