Wer durch das Alte Land radelt oder spaziert, sieht ihn fast immer: den Deich. Mal als grüne Linie in der Landschaft, mal als erhöhten Weg, mal als Horizont mit Aussicht. Zweimal im Jahr gehen Fachleute zu Fuß den Deich ab. Die Deichschau ist eine regelmäßige Begehung und Kontrolle der Deiche. Weil ein Deich nur schützt, wenn er gepflegt, stabil und vollständig intakt ist. Auf einen Marsch auf dem wichtigsten Bauwerk der Region – und mit den Menschen, die ihn schützen.
Ein Frühlingstag im Alten Land, über 30 Leute in Gummistiefeln und Warnweste, den Blick konzentriert auf den Boden gerichtet. Die Deichschau ist auf der sogenannten II. Meile unterwegs. Los geht es mit einer kurzen Einführung am Lühesperrwerk. Dann wird marschiert. „Schlichtweg bis zum Gefängnis Hahnöfersand“, sagt Oberdeichrichter Wilhelm Ulferts. Zwölf Kilometer Elbdeich, zu Fuß abgegangen. Protokolliert vom Landkreis.
Die Deichschau ist eine Art Generalinspektion. Fachleute vom Landkreis, Vertreter der Gemeinden, Feuerwehr, Ehrenamtliche, der Deichverband selbst. Gesucht werden Wühlstellen, Setzungen, Auffälligkeiten. Aber auch Lappalien, wie Warnschilder, die nicht richtig warnen oder Deichzugänge, die den Zugang nicht gewähren, Löcher in den Bänken oder Stolperfallen. Letztere sind Aufgabe der Gemeinden. Matthias Riel, Bürgermeister von Jork, notiert solche Mängel direkt. Gerne ist er bei der Deichschau dabei, weil es wichtig sei „und die Landschaft einfach so schön ist“, schwärmt er. „Der Deichverband hat alles im Blick. Die Kompetenz liegt zunächst beim Verband – wir setzen es aber logischerweise um.“
Der Deich hat oberste Priorität. Jorks Bürgermeister erinnert an den Februar 2022: Orkan Zeynep zog über den Landkreis, schwere Sturmflut, 3,30 Meter über Normal. Das Szenario hat ihn geprägt. „Das war eine beängstigende Situation. Wir waren nachts unterwegs am Deich. Um zwei Uhr, nochmal um vier Uhr. Doch der Oberdeichrichter blieb ruhig. Und die Deiche hielten.“ Auch die Deichtore wurden zusätzlich zu den Sperrwerken geschlossen. „Am Ende war alles gut. Aber die Situation hat gezeigt, wie ernst es werden kann.“ Erst 2024 fand im gesamten Landkreis eine große Deichverteidigungsübung statt. Dabei wurden nicht nur Abläufe geprobt, sondern auch die Ausstattung auf den neuesten Stand gebracht. Die Sandsackvorräte bei den Feuerwehren wurden ergänzt, Einsatzwege überprüft und die Zusammenarbeit zwischen Verband, Landkreis und Ehrenamt gestärkt.
„Klimaereignisse kommen immer öfter vor“, sagt Riel. „An erster Stelle steht bei uns die Deichsicherheit. Der Deich ist unsere Lebensversicherung.“
Der Deichverband der II. Meile Alten Landes ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Vertreten wird er vom Oberdeichrichter. Wer Grundbesitz im Schutzgebiet hat, ist Mitglied. Die Beiträge zur Deichunterhaltung sind gesetzlich geregelt im Niedersächsischen Deichgesetz (NDG). Die Aufsicht führt der Landkreis Stade. Wilhelm Ulferts, langjähriger Oberdeichrichter, hat über 50 Deichschauen miterlebt. Heute ist er dabei, aber nur als Fahrer. „Frisch operiert“, sagt er. Der Blick ist wach wie immer. „Dem Deich geht es besser als früher, weil die intensive Arbeit der letzten Jahre sich jetzt auszahlt.“
Seit mehreren Hundert Jahren gibt es Deiche im Alten Land. Die heutige Struktur geht auf die Sturmflut von 1962 zurück. Damals wurde das Deichgesetz reformiert. Früher war jeder Deichbürger für seinen Abschnitt selbst verantwortlich. Damals kontrollierten die Deichrichter und stellten bei Versäumnissen Strafen aus: fünf D-Mark und Spott und Ärger der Nachbarn – weil der Deich immer nur so gut ist, wie seine schwächste Stelle. Heute liegt die Verantwortung beim Deichverband. Meldungen bei Sturmflut laufen beim Oberdeichamt auf. Die Deichrichter koordinieren, die Feuerwehren schließen die Deichtore.
Es ist zwölf Uhr. Vor hohen Gittern, dem Eingang zu Hahnöfersand, bleibt die Gruppe stehen. Hahnöfersand ist ein besonderes Kapitel in der Deichgeschichte. Das dortige Jugendgefängnis ist noch in Betrieb, soll aber bis spätestens 2027 geschlossen werden. Was danach mit dem Gelände geschieht, ist offen. Die Insel liegt vollständig im Bereich der II. Meile des Alten Landes und ist von ihren Deichanlagen umgeben – etwa 3,7 Kilometer Hauptdeich verlaufen dort entlang der Elbe. Die Fläche ist für den Küstenschutz strategisch wichtig: Nicht nur wegen des Deichverlaufs, sondern auch als Standort für Klei-Lager, Materialdepots oder Stallungen. Doch die Insel gehört der Stadt Hamburg, und die zeigte sich bisher zurückhaltend. Ein Verkauf der Flächen wird ausgeschlossen, eine dauerhafte Verpachtung ist jetzt jedoch einvernehmlich vertraglich geregelt.
Für die Deichschau sind die politischen Verflechtungen irrelevant. Ein Angestellter der Justizbehörde gewährt Einlass in den Sicherheitsbereich. Dahinter geht die Deichschau weiter. Kurz hinter den Gittern versammelt sich die Gruppe erneut. Oberdeichrichter Ulferts zeigt auf einen Deichabschnitt. „Hier ist der höchste Druckpunkt an der Meile.“ Der Deich bekommt hier besonders viel Natur ab: Strom, Wind und Wellendruck der Elbe. 8,60 Meter Deichhöhe soll auf elf Meter erhöht werden. Die Deicherhöhung ist beschlossene Sache. In Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein. Doch der Ausbau hängt fest, weil sich das Land und die Deichverbände über neue Naturschutzauflagen streiten. Solange es keine Einigung gibt, darf am Deich nicht gebaut werden. Vorbereitungen werden dennoch bereits getroffen.
Zur reinen Verwaltung kommt viel Bürokratie. „Wir kämpfen an allen möglichen Fronten, auch in Hannover im Umweltministerium“, sagt Oberdeichrichter Ulferts. Denn die Herausforderungen wachsen. Die Elbe steht häufiger am Deich. Der Wasserspiegel steigt. Das Wasser drückt von vorn – und auch von hinten. „Wir brauchen Schöpfwerke zum Entleeren des Wassers im Notfall, genau wie eine gute Beherrschung der Hochwasser aus Este und Lühe“, sagt Ulferts. Der Klimawandel ist spürbar, ebenso wie die Elbvertiefung.
Die Truppe zieht weiter. Früher floß bei jeder Deichschau viel Alkohol. Trinkfestigkeit war gefragt. Heute gibt es nur noch einen Kurzen zum Anstoßen.
„Mesophiles Grünland“, wird dokumentiert. Artenreicher Rasen, der nicht sein darf. Überall Disteln. Die Wurzeln schaden dem Deich. „Mäuselöcher!“, dröhnt es fast parallel durch die Runde. Alle blicken nach unten. Das Auge sucht nach den kleinen Zeichen: Setzungen, Wühlstellen, Trittschä- den. Alles wird dokumentiert: mit Fotos, Standortangaben, Notizen.
Schafe sind fester Bestandteil des Deichschutzes
Vasile Buza ist seit 2014 Deichschäfer der II. Meile, betreut 650 Mutterschafe mit Lämmern. Sie sehen nicht nur süß aus und sind ein Touristenmagnet. Sie fressen die Grasnarbe gleichmäßig kurz und treten sie fest. Doch nicht alle Probleme lassen sich weiden: Disteln bleiben stehen. Früher halfen spezielle Schafrassen. Heute braucht es Chemie. Auch tierische Feinde werden bekämpft: Marderhund, Nutria, Fuchs, Dachs, Wühlmaus, Maulwurf. Für ihre Bekämpfung gibt es eine Ausnahmeregelung. Mit Legeflinte gegen Wühlmäuse und Maulwürfe. Der Einsatz ist streng geregelt, aber notwendig. Es geht um nichts weniger als die Stabilität des Deichs. Heute wurde die Notwendigkeit wieder deutlich.
Hans-Jürgen Lindner, zweiter stellvertretender Oberdeichrichter aus Buxtehude, sagt: „Dem Deich geht es richtig gut. Wir tun irre viel.“ Der Verband investiert allein 625.000 Euro pro Jahr in Pflege: Mähen, Bekämpfung tierischer und pflanzlicher Feinde, Stallpacht, Gehölzarbeiten, Mitarbeiter und Bürokosten.
Am Ende dieser Deichschau gibt es keine großen Überraschungen. Denn: Deichschau ist eigentlich immer. Die Deichrichter haben ihren Deich ganzjährig im Blick. Bis auf Kleinigkeiten ist der grüne Catwalk intakt. Sicher. Wehrhaft. Und kein bisschen alltäglich. Am Ende erteilt der Landkreis die Freigabe: „Der Deich ist schaufrei.“ Bis zur nächsten Deichschau im Herbst.
Sturmflut 1962:
In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 traf eine schwere Sturmflut die deutsche Nordseeküste. Im Raum Hamburg und im Alten Land erreichte das Wasser Pegelstände bis zu 5,70 Meter über Normalnull – der höchste Stand seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Sturmflut war ein Wendepunkt für den Küstenschutz. Damals hielten viele Deiche nicht stand – sie waren zu niedrig, schlecht gepflegt und oft in privater Verantwortung. Es fehlte an durchgängigen Hauptdeichen, an Koordination und an Frühwarnsystemen. Besonders Hamburg wurde schwer getroffen, über 300 Menschen starben. Auch im Alten Land kam es zu Überflutungen. Die Katastrophe führte zur Reform des Niedersächsischen Deichgesetzes und zur Gründung moderner Deichverbände – wie dem der II. Meile Alten Landes. Seitdem gilt: Der Schutz kommt nicht mehr dem Zufall, sondern der Organisation zu.

Text: Mona Adams · Fotos: Volker Schimkus