Lühesand

Willkommen auf der Freien Republik Lühesand

Es dauert eine Weile, bis alle Passagiere in das offene, kleine Fährboot eingestiegen sind: Familien mit Kindern und unzähligen Taschen sind dabei. Eine Gruppe Pfadfinder, bepackt mit Kisten voller Nudeln und Reis und einem großen Packen Feuerholz. Ein jüngerer Mann mit Hund und Rucksack steigt dazu, dann ein Pärchen, um die 50, das zu seinem Wochenendhäuschen auf der Insel will, wie beide erzählen. Und Kai-Uwe Gosch ist mit an Bord. Er betreibt mit seiner Frau Iris als Pächter das einzige Gasthaus auf Lühesand. Eine Visite, die sich lohnt.

Keine fünf Minuten nach dem Ablegen am Elbeich in Hollern-Twielenfleth ist die Insel erreicht: Ein grüner Stich mitten in der Elbe, etwas mehr als drei Kilometer lang und nur 550 Meter breit. Markant ragt dort ein rotweißer Strommast auf, der mit einer Höhe von 227 Metern der höchste seiner Art in Europa ist. Auf dieser östlichen Ecke der Insel gibt es schon seit Jahrzehnten ein Naturschutzgebiet, etliche Vogelarten brüten dort, das Betreten ist da – wie bei anderen Elbinseln auch – verboten. Anders aber auf dem westlichen Teil von Lühesand, wo man dieses Huckleberry-Finn-Gefühl der Inselabgeschiedenheit mitten in einem großen Strom noch erleben kann:  Kleine Hütten und Wohnwagen von Dauercampern und Touristen stehen dort, es gibt Zeltplätze, seit wenigen Jahren sogar einen Wohnmobilplatz, und eben auch 16 Wochenendhäuser sowie Spazierwege, die alles miteinander verbinden. Vieles scheint hier aus der Zeit gefallen: Schon gleich bei der Ankunft begrüßt die Besucher ein verwittertes Schild in der typischen Schrift der 50er Jahre: „Willst Du ein Insulaner sein, halte diese Insel rein“, mahnt es die Ankömmlinge. Etliche Schubkarren stehen daneben. Sie sind auch nötig: Man bringt seine Sachen damit zum Zelt oder Wohnwagen, holt Wasser aus dem Sanitärgebäude, das wohl zuletzt in den 70er Jahren modern genannt werden konnte.  Auch Strom gibt es nicht, man versorgt sich eben mit Solaranlagen. „Es ist eine andere Welt“, sagt Gosch, während wir auf sandigen Wegen weiter ins Innere der Insel gehen. Manchen sei es hier zu einfach, andere suchten genau das, glaubt er. Und tatsächlich erscheint der Campingplatz wie eine Welt der Individualisten: Weit stehen die Wohnwagen auf riesigen Parzellen auseinander, fast versteckt liegen sie hinter kleinen Hügeln und Bäumen. 

Mit einem Campingplatz wie an der Ostsee hat das so viel zu tun wie eine einsame Tiny-House-Siedlung mit den Wohnblocks von Steilshop. 

Eher wird man an ein Aktivistencamp erinnert oder an eine weitläufige Schrebergartensiedlung. Das liegt auch an den Klapphütten, auf die man immer mal wieder trifft. In den 60er Jahren soll es solche Hütten aus dem Neckermann-Katalog gegeben haben, erzählt Insel-Gastronom Gosch. Ein örtlicher Zimmermann habe dann für Lühesand solche Hütten weiterentwickelt. Was praktisch ist: Denn mit der Sturmflutsaison im Herbst müssen alle Wohnwagen runter von der Insel, die Klapphütten werden dann eben geklappt und auf der Anhöhe beim Gasthaus bis zum Frühjahr gelagert.

Kai-Uwe Gosch und seine Frau Iris betreiben das Insel-Gasthaus auf Lühesand, das sich seit seinem Bau in den 1930er Jahren kaum verändert hat.

Auch Ralf Krauth hat eine solche Klapphütte als Veranda zu seinem Wohnwagen, der auf der anderen Uferseite mit Blick auf das Fahrwasser steht. Ein kleiner Pfad zwischen Wildrosen und sanft geschwungenen Wiesenhügeln verläuft dort. „Meine Elbchaussee“, sagt der gerade pensionierte TÜV-Prüfer, der wochentags im Osten Hamburgs wohnt. Krauth ist so etwas wie ein typischer Saisonbewohner von Lühesand. Schon die Eltern seiner Frau hatten hier einen Platz, der oft genau wie die festen Wochenendhäuser über Generationen in der Familie weitergeben wird. Später kam das Ehepaar Krauth auf die Insel allein schon wegen der Kinder, die unter Pseudokrupp-Husten litten. „Hier war das immer ruckzuck weg“, sagt Krauth, der Ferien und Sommer-Wochenenden nun schon seit Jahrzehnten auf Lühesand verbringt. „Wir mögen eben den Norden, und warum soll man weit wegfahren, wenn es so etwas vor der Haustür gibt?“, fragt er.

Ein kleines, bisher verstecktes Insel-Paradies ist Lühesand auch für Anne Weyrauch (42) und Christoph Montz (39). Die beiden wohnen in St. Georg und sind mit dem Wohnmobil für einen Wochenendausflug auf die Insel gekommen. Auf Campingstühlen lesen sie hier in der Sonne, hören nur den Wind rauschen und blicken auf Segelboote und Frachter auf der Elbe. „Das ist hier einfach super entspannt und so nah an Hamburg “, sagt Weiyrauch.

Für solche Kurzzeit-Gäste mit Wohnwagen oder Wohnmobilien hat Campingplatz- und Fährbetreiber Holger Blohm eine große Wiesenfläche eben hier an der „Elbchaussee“ gemäht. Mit einer früheren Main-Fähre transportiert er die Wagen herüber. Weil das aber umständlicher ist als die Fahrt mit der offenen Personenfähre und auch vom Tidenstand abhängt, muss man sich anmelden und ein paar Tage bleiben. Der 63-jährige Blohm betreibt Campingplatz und Fährdienst nun schon in dritter Generation und ist auf der Insel auch aufgewachsen: Mit dem Ruderboot wurde er da zur Schule gebracht, im Winter ging es manchmal auch zu Fuß übers Eis. Sein Großvater hatte in den 30er Jahren das Insel-Gasthaus als Ausflugsziel gebaut, seitdem hat sich dort nicht viel verändert. Noch immer hängen Steuerräder und Positionslampen eines Schiffs in dem eher dunklen Schankraum mit den hölzernen Tischen und Stühlen. Auf der Terrasse treffen sich unter einer großen, schattigen Esche Ausflügler und Camper, man trinkt Schorle, Bier oder Aperol. Auf der Karte stehen einfache, aber handfeste Gerichte wie Matjes, Bratkartoffel und eben auch das Bauerfrühstück, das hier als legendär gilt. 

Bis in die 50er und 60er Jahre wurde auf Lühesand wie auf den anderen Inseln der Niederelbe noch wild gezeltet, die Leute kamen meist mit Falt- oder kleinen Segelbooten. Fern- und Flugreisen waren noch ferne Träume, Strand-Abenteuer und Erholung konnte man noch in der Region finden.

Und ein wenig ist dieser Charme des einfachen 50er-Jahre-Urlaubs auf Lühesand immer noch gegenwärtig: Versteckt im Wald an der Fahrwasserseite haben drei Hamburger Paddelvereine eigene Zeltplätze bei Holger Blohm gepachtet. Knapp 15 Kilometer sind es von dort bis Blankenese, ideal für einen Tripp mit dem Kajak hin und am anderen Tag wieder zurück. Aber auch der andere, der größere Jedermann-Zeltplatz hat diesen Charme des früheren Wildzeltens auf Elbinseln bewahrt. Blohm hat dort große Flächen gemäht, immer wieder findet man eigene abgeschiedene Plätze für Zelt und Feuerstelle. Die Pfadfinder haben ihre Jurten dort zu einer Gruppe aufgestellt, in der Mitte ist bereits das Holz für das abendliche Lagerfeuer aufgeschichtet. Und auch den Mann mit Rucksack und Hund aus dem Fährboot treffen wir hier wieder. Beide könnte man so auf einer einsamen Trekkingtour in Norwegen vermuten. Tim Brümmer heißt der Rucksackmann, wohnt in Hamburg und ist Marketingchef einer Agentur mit Sitz in der Schanze. Oft ist er zu solchen kleinen Fluchten unterwegs, um sich am Wochenende vom Job zu erholen.  Und da suche er eben gerade das Einfache und die Abgeschiedenheit. Diese Insel ist genau das Richtige. Lühesand eben.

Information: Die kleine Personenfähre nach Lühesand fährt in der Saison vom letzten März-Wochenende bis zum zweiten Oktober-Wochenende mehrmals am Tag. Der Fähranleger befindet sich in dem kleinen Ortsteil Sandhörn in Twielenfleth (Sandhörn 6), bei einem Imbiss gibt es dort einen Parkplatz (Tagespreis drei Euro). Die Fährfahrt kostet für Besucher 2,50 Euro,  für Kinder 2 Euro. Kleine Kinder und Hunde werden umsonst mitgenommen. Fahrräder können nicht transportiert werden. Ein Wohnmobil-Transport mit der größeren Fähre kostet 25 Euro. Infos zum Fährplan und über die Preise fürs Zelten und Campen findet man auf der Internetseite www.elbinsel-luehesand.de
Deichlust

Text: Axel Tiedemann · Fotos: Volker Schimkus