Erstmals lässt der Cartoonist Journalisten in sein Atelier
Es ist ein ganz besonderer Ort : Ein 156 Jahre alter Klassenraum in der alten Dorfschule in Steinkirchen, in der Tetsche mit seiner Familie seit 1988 lebt. Fast ein Museum der modernen Art. Heute ist dort sein Atelier, vollgestopft bis unter die Decke mit allem, was die Fantasie anregt und blühen lässt. Denn dafür steht Tetsche, einer der bekanntesten Cartoonisten Deutschlands. Dass er erstmals Journalisten in sein Atelier ließ, rechnen wir ihm hoch an. Es war ein richtiger Glückstag, mit einem Tetsche, der seiner fast kindlichen Freude am Absurden voll gerecht wurde.
Wir sitzen bei strahlendem Sonnenschein im Obstgarten hinter dem Lühedeich, mitten im Alten Land. Hinter der alten Dorfschule, einem der ungewöhnlichen Ausflugsziele an der Elbe, an der die Busse mit den Touristen ganz langsam vorbeifahren, weil der Guide auf eine Stelle auf dem Dach zeigt, wo ein riesiger Pümpel als Giebelschmuck Wind und Wetter trotzt und den Ausflüglern erklärt: „Hier wohnt Tetsche.“
Das alte Schulhaus mit den Ateliers ist seine Spielwiese. Da gedeiht Federvieh, das so in keinem Biologiebuch auftauchen würde: Rauchschwalbe, Wanderfalke, Schleiereule und Lachmöwe… es bleibt dem Leser überlassen, sich auszumalen, was Tetsche wohl davon gemacht hat. Der Mann gilt eben als einer der kreativsten Paradiesvögel des Nordens. Zugegeben, es war nicht ganz so einfach, einen Termin beim Meister des schrägen Humors zu bekommen. Im Vorgespräch machte er es spannend, denn Tetsche kann sehr lustig schweigen. Als der Tisch mit Kaffee und Butterkuchen gedeckt ist, erscheint Tetsche im bunten Hemd, Jeans, Boots und einem seiner Markenzeichen, einem runden Schlapphut. „Jo“. Er sitzt im Korbsessel und schweigt. Ein süffisantes Lächeln und das schelmenhaft wirkende Gesicht signalisieren, dass er durchaus bereit sein könnte, Fragen zu beantworten.
Sicher dagegen ist, dass er einst in Soltau geboren wurde, in der Lüneburger Heide ist er auch aufgewachsen. Die Formulierung „erwachsen geworden“ wäre an dieser Stelle falsch, denn so richtig erwachsen geworden ist er bis heute nicht. Tetsche hat sich die Unvernunft bewahrt, die seinen Artgenossen im Laufe des Lebens abhandenkommt. Weil sie erwachsen werden. Wenn er Papierfäden aus dem Reißwolf formt, mit zwei Murmeln als Augen bestückt und damit seine vier kleinen Enkelkinder verzückt, ist er in seinem Element. Aus Nichts etwas Kreatives und Fröhliches schaffen, was Freude macht. Das ist seine Welt. Und das sei schon immer so gewesen, sagt er.
Seine erste Zeichnung veröffentlichte er im zarten Alter von 15 Jahren, als die Zeitschrift „Hörzu“ einen von ihm eingesandten Cartoon druckte und zu seiner eigenen Verblüffung auch noch bezahlte. Zu sehen war schwarzer Humor in Reinkultur: Ein Sarg mit zwei Trägern, und aus dem leicht geöffneten Deckel ragen zwei Arme und tragen mit…
So hatten sie ihn schon im Kidesalter genannt, seinen Geburtsnamen hat er ins Archiv gepackt. „Muss keiner wissen.“ Weil der Vater aus ihm einen Stadtinspektor mit Beamtenlaufbahn machen wollte, was nun überhaupt nicht sein Ding war, entflog er früh dem Elternhaus. Der Lehre als Schriftsetzer folgte eine ziemlich harte Zeit „Hunger war mein zweiter Vorname“.
Auch als Pflastermaler und Straßenmusiker musste er sich seine Brötchen verdienen. Bis er das Glück hatte, dass sein Können entdeckt wurde. Mit einer prallvollen Kunst- und Zeichenmappe hatte er sich bei einer bekannten Hamburger Werbeagentur beworben und wurde dort gleich als Kreativdirektor eingestellt. Es war eine fidele Zeit – bis ihn dann endgültig die unbändige Lust überkam, sich als Grafiker und Cartoonist selbstständig zu machen. Er zeichnete wie ein Weltmeister für Zeitungen und Zeitschriften wie „Konkret“, „pardon“, „Zeit Magazin“, „Hörzu“ und auch für die „St. Pauli Nachrichten“. Immer Cartoons mit seinem speziellen Humor und speziellen Strich, mal schräg, mal absurd, mal gesellschaftskritisch – aber immer saukomisch.
Sein Durchbruch als Künstler kam gleich danach mit einer echten Sternstunde: Das damals hochangesagte Magazin „Stern“ druckte ihn sofort. Nicht einmal, sondern ab sofort wöchentlich. Und das ganze unglaubliche 44 Jahre lang. Exklusiv und jedesmal eine ganz eigene Seite. Oft war das nicht nur ein einzelner Cartoon. Tetsche schaffte sich eine Fangemeinde. Und beim Betrachten der Zeichnungen wurden seine Markenzeichen gesucht: Ein Spiegelei, ein Zahn, ein Kondom, eine Säge, die aus einer Linie herausragt oder natürlich der „Pümpel“. Warum ein Pümpel? „Weil ich mit einer Saugglocke geboren wurde“, behauptet er. Das wäre nachvollziehbar. Doch sein Nachsatz lässt zweifeln: „Mein Vater war Klempner, da war das naheliegend – man hat damals alles selber gemacht.“ Er sagt das so, dass es stimmen könnte, aber die Zweifel sind groß.
44 Jahre zeichnen für den „Stern“ . Wöchentlich. Ohne Pause. Rechnerisch sind das 2288 Cartoons, doch weil mitunter mehrere Tetsche-Werke auf der Humor-Seite erschienen, dürften es locker über 3.000 Zeichnungen gewesen sein. Mit dem Jahresende 2017 hörte er beim „Stern“ auf. Seitdem kann man seine Werke, Cartoons und Objekte auf Ausstellungen besichtigen. In jedem Jahr gibt es quer durch die Republik zwei bis drei Tetsche-Veranstaltungen, es erscheinen neue Bücher und er hat Zeit, seine neuen Ideen zu realisieren, wie 2021 eine große Open Air Ausstellung an den denkmalgeschützten mittelalterlichen Kaimauern im alten Hansehafen von Stade. Eine bisher bundesweit einzigartige Aktion.
Übrigens: Lühe-Bürgermeister Timo Gerke hat den kühnen Plan im Kopf, ein Tetsche-Haus in der Samtgemeinde einzurichten. Tetsche ist begeistert, nur das Objekt fehlt noch.
Tetsche in seinem Atelier: Vollgestopft bis unter die Decke mit Büchern, Antiquitäten, aber auch viel kreativer Kunst. Was andere als Abfall sehen, macht er zu Kunstwerken, mit einfachen Pinselstrichen, Murmeln oder der Zigarette im Vogelschnabel. Weil ihm das in den Sinn kommt.
Tetsche beobachtet auch gerne. Egal was und wen. „Zack, schon ist die Idee da“, sagt er. Manchmal hilft auch unfreiwillige Komik. Als 1993 ein Feuer einen Teil der alten Dorfschule vernichtet hatte, wollte er dem „Stern“ das erste und einzige Mal für die wöchentliche Seite absagen: „Ich bin abgebrannt“, stöhnte Tetsche ins Telefon. „Ach, brauchst Du mehr Geld?“, krächzte der Redakteur…
Text: Wolfgang Stephan · Fotos: Volker Schimkus