Stader Airbus-Chef schwingt den Pinsel

Schwarze Hose, dunkles Poloshirt, Klapp-Campingstuhl. Von der Buxtehuder Hafenbrücke blickt er auf das Fleth. Dicht bewachsene Bäume verstellen ein wenig den Blick. Links überragt der Turm der Petrikirche die Szene. „Schön“, sagt er. „Das male ich.“ Er setzt sich. Hinter ihm donnern Autos über die Hafenbrücke und umrunden die Hansekogge, deren Rost im Abendlicht schimmert. Aus seinem Rucksack holt er ein Marmeladenglas mit Schraubdeckel, in dem Wasser schwappt. Außerdem einen kleinen Aquarellfarbkasten und ein braunes Lederetui, das er auseinanderwickelt. Darin stecken Bleistifte und Fasermaler. Feierabend-Utensilien für den Maler mit Airbus-Emblem auf dem Shirt.

Seit gut drei Jahren leitet Dr. Jörg Schaupp das Airbus-Werk in Stade. Der erfahrene Manager ist weit gereist und hat früher für den Bosch-Konzern in der ganzen Welt gewirkt, ehe er 2020 zu Airbus kam. Ein Quereinsteiger im Flugzeugbau, aber mit reichlich Produktionsexpertise. Industrielle Prozesse und wichtige Entscheidungen bestimmen seinen Alltag. Zur Ruhe kommt der 58-Jährige mit Bleistift, Pinsel und Farbe.

Jörg Schaupp ist in Norddeutschland zur Welt gekommen, verbrachte die ersten elf Lebensjahre in Kiel. Dann ging es in den Süden, nach Karlsruhe. Vom einen auf den anderen Tag, erinnert er sich. „Mir hat das vorher keiner erzählt.“ Lange hat den Jungen das Heimweh geplagt. Vielleicht zog es ihn deshalb immer wieder zurück. Viele Jahre lang hat der Manager mit seinem Sohn das Wacken Open Air besucht. Mit Zelt und Gummistiefeln und schwarzem Hoodie. In diesem Jahr habe der Junior ihn nicht mehr begleiten wollen. „Mit 27 Jahren fühlt er sich zu alt dafür.“ Jörg Schaupp lacht. Doch das Vater-Sohn-Gespann hat bereits neue Hard-Rock-Plä- ne. Nächstes Jahr wollen sie an Bord eines Kreuzfahrtschiffes gehen und die Full Metal Cruise, ein Heavy-Metal-Festival auf dem Wasser, mitmachen – organisiert vom Team des Wacken Open Air. Heavy Metal auf der einen, und auf der anderen Seite Jazzmusik und Klassik, Literatur und Aquarell-Malerei. Dazwischen Zahlen.

Ausgleich zum oft hektischen Arbeitsalltag: Jörg Schaupp beim Malen in Buxtehude.

Als Gymnasiast in Karlsruhe ist Jörg Schaupp gut in Mathe und Physik, würde aber lieber Deutsch und Geschichte studieren. „Ich hatte nur keine Lust, arbeitsloser Lehrer zu werden.“ Also Maschinenbau. Einen Karriereplan hat er nicht. Die Liebe zum Fach wächst 1990 während eines ersten Praktikums bei einem Automobil-Zulieferer in Japan. „Ich habe damals gesehen: Super, das kann man ja echt benutzen.“ Von der Berechnung über die Zeichnung und den Musterbau bis hin zum Testen des fertigen Bauteils macht der Student in der Dichtungsherstellung alle wichtigen Schritte. „Das hat meine Kindheitserinnerungen an die Sendung mit der Maus geweckt, die habe ich geliebt.“ Wie aus einem Stück Holz ein Kochlöffel wird oder aus Sand ein Trinkglas, diese Herstellprozesse faszinierten ihn schon früh. Natürlich kennt er die Maus-Episode, in der Christoph Biemann erklärt, wie bei Airbus ein Flugzeug gebaut wird.

An das Diplom hängt der Maschinenbau-Ingenieur die Promotion, ehe er seine berufliche Laufbahn mit 31 Jahren bei Freudenberg in Weinheim beginnt. Vier Jahre später wechselt er zu Bosch nach Stuttgart und verantwortet als Gruppenleiter die Fertigung von Diesel-Einspritzpumpen. Kurz darauf übernimmt er ein Projekt zur Verlagerung von Produktion nach Tschechien, in die USA und nach Japan.

„Eine verrückte Zeit“, erinnert er sich. Sein Hauptarbeitsort? „Im Flugzeug.“ Anschließend zieht Jörg Schaupp als Assistent des Bosch-Geschäftsführers in Japan mit seiner Familie für vier Jahre in das Heimatland seiner Frau. Dann weiter nach Tschechien, mit seiner Frau und den beiden Kindern. Er baut als Werkleiter eine Fabrik auf. Der Abschied aus Prag fällt ihm schwer. Die emotionale Verbundenheit sei nach fünf Jahren sehr groß gewesen, „gefühlt ging jede Einstellung über meinen Schreibtisch, ich kannte alle Menschen in der Fabrik“. Von München aus führt er ein Produktionssystem für weltweit knapp 50 Fabriken ein und leitet anschließend in Istanbul als technischer Geschäftsführer der gesamten Bosch-Produktion in der Türkei sieben Fabriken, ein Entwicklungszentrum und 27 Distributionslager. „Das war ein großer Schritt, erstmals konnte ich unternehmerische Entscheidungen treffen.“ Drei Jahre lang pendelt er zwischen Istanbul und dem Familienhaus in Karlsruhe, dann soll er weiterziehen im Bosch-Kosmos. Nach China. Oder Zentralasien. Doch Jörg Schaupp beendet die Weltenbummelei und wechselt im Juni 2020 zu Airbus in Finkenwerder. Trotzdem sagt er: „Ich würde das immer wieder so machen. Weil ich ein neugieriger Mensch bin. Weil es den Blick weitet. Weil du die Vorzüge in Deutschland im Ausland zu schätzen lernst.“

Jörg Schaupp malt spät abends, zum Runterkommen, oder im Urlaub. Am liebsten Städte. An einer Wand in seinem Flur hängt die Prager Karlsbrücke. In seinem Skizzenblock sind Fassaden aus Wismar und Rothenburg ob der Tauber, die Elbphilharmonie in Hamburg, die Speicherstadt, das Hamburger Wasserschloss und natürlich der Fischmarkt in Stade.

Eine Skizze ist eine flüchtig hingeworfene Zeichnung, ein Entwurf. Jörg Schaupp ist mit seinen Skizzen häufig unzufrieden.

„Ich bin Ingenieur“, sagt er. „Gerade Striche kann ich.“

Er verfügt über das technische und mathematische Verständnis, komplexe technische Probleme zu analysieren und detailgenaue Lösungen zu entwickeln. Gute Ideen? Ja. Kreativität? Auch. Mit dem Loslassen tut er sich schwer. „Gute Skizzen leben davon, dass sie nicht perfekt sind“, sagt er, da gehe es nicht um Exaktheit, um Details und Maßstäbe.

Um dennoch Skizzen, die ihm gefallen, aufs Papier zu bekommen, bedient er sich eines Tricks: Er greift den Stift sehr weit hinten, weiter noch als ein Dreijähriger am Kindergartenmaltisch. So huscht der Stift in seiner Rechten über das Papier, den Block hält er mit der linken Hand. Keine Zeit zum Denken, im Nu erwächst die Szene. Das Wasser, die Häuser, die Flethschleuse. „Eine Skizze wirkt lebendig, wenn das Bild im Kopf des Betrachters entsteht und nicht auf dem Papier“, sagt Jörg Schaupp. „Es geht um Wiedererkennung. Wer‘s genau will, soll ein Foto machen.“

Beim Malen sind Airbus und die Arbeit für einen Moment ganz weit weg. Der Flugzeugbau bestimmt seine Tage. Bei Airbus leitet Jörg Schaupp nach seinem Einstieg zunächst die Single-Aisle-Endmontage Finkenwerder, ehe er im April 2021 die Position des Werk- und Standortleiters in Stade übernimmt. „Ein echter Top-Job. Die ideale Verbindung von Technik und administrativem Management“, schwärmt er. Plus: „Ich kann in meiner Muttersprache arbeiten. Das macht Spaß, vor allem, weil es oft um Feinheiten geht.“

Airbus Stade fasziniere ihn wegen der spannenden Kombination aus Serienproduktion und Technologieentwicklung. Der Standort ist das Zentrum für Technologie rund um kohlenstofffaserverstärkten Kunststoff (CFK) in Deutschland und für Airbus. Und Jörg Schaupp ist sich sicher, dass der Werkstoff in seinem Potenzial und in seiner Performance noch längst nicht ausgereizt ist. Entwicklung ist eine große Säule des Standort-Erfolgs. In diesem Jahr hat Airbus in Stade ein Entwicklungszentrum für innovative Wasserstofftechnologien gestartet und, ein paar Hallen weiter wurde 2023 ein weiteres eröffnet, in dem Fertigungsprozesse rund um den Werkstoff CFK entwickelt werden. Zugleich macht sich der Standort mit seinen knapp 2000 Mitarbeitenden bereit für den Ratenhochlauf. Die Zeichen stehen auf Wachstum.

Airbus in Stade

Das Airbus-Werk in Stade zählt mit seinen rund 1700 Beschäftigten zu den größten Arbeitgebern in der Region. In hochmodernen Fertigungslinien produziert der Flugzeughersteller in Stade die Seitenleitwerke für alle Flugzeuge der A320-Familie, A330, A350 und A400M. Gefertigt werden hier ausschließlich Bauteile aus leichten Kohlefaserverbundwerkstoffen (CFK). Auch das größte CFK-Integralbauteil der Welt, die Flügeloberschale für den Airbus A350, sowie die A400M-Flügelabdeckungen stammen aus Stade. Überdies entwickelt und industrialisiert der Standort Verfahren zur Herstellung faserverstärkter Kunststoffbauteile für Gesamt-Airbus. Stade ist das weltweit führende Kompetenzzentrum für Kohlefaserverbundwerkstoffe. Im sogenannten „CFK-Valley“ arbeiten Expertinnen und Experten aus Forschung und Wirtschaft unmittelbar zusammen an der Grundlagenforschung, Technologieentwicklung und Anwendung neuer Verfahren und Materialien.

Doch auch der globale Wettbewerbsdruck in einer sich immer schneller verändernden Welt wachse, sagt Jörg Schaupp. In der Automotive-Branche sei der Druck wahnsinnig hoch gewesen, „da ging es um Cents und Sekunden. Wir in Stade sollten den Wettbewerb als etwas Positives annehmen. Der Wettbewerb treibt uns an, besser und schneller zu werden.“ Als Werkleiter sei es seine Aufgabe, dies den Menschen im Werk zu vermitteln. „Wir müssen alle aktiv etwas dafür tun, unseren Lebensstandard zu halten. Wenn man ein Werk verändern möchte, wenn man eine Kultur des Immer-besser-Werdens etablieren möchte, muss man dranbleiben. Man braucht Hartnäckigkeit und Geduld, um Dinge in Bewegung zu setzen.“ Stressresilienz sei hilfreich, um den Werkleiterjob gut zu machen. Ein guter Arbeitstag sei einer, an dem er Kontakt zu vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern habe. „Ich will wissen, was die Sorgen in unseren Produktionslinien sind. Nicht alles, was ich höre, gefällt mir, das ist ja klar. Aber es ist ungemein befriedigend, wenn ich ein Problem für jemanden lösen kann.“

Die Verbundenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Werk, der familiäre Zusammenhalt sei jederzeit spürbar, sagt Jörg Schaupp. „Ich finde es beeindruckend, wie genau alles beobachtet wird. Die Leute wissen etwa, ob mein Auto da ist oder nicht. Für mich ist das auch ein Zeichen der Wertschätzung.“ Die enge Bindung zeige sich unter anderem in der geringen personellen Fluktuation oder darin, dass die Kolleginnen und Kollegen sehr interessiert am Wohlergehen des Unternehmens seien. „In diesem Zusammenhalt liegt eine Stärke, die wir nutzen müssen.“

Darum schaut der Werkleiter im Sommer auch schon mal bei einem Fußballturnier der Airbus Sportgemeinschaft vorbei, obgleich ihn der Sport nicht interessiert. Er bezahlt die Kaltgetränke und freut sich über die gute Stimmung.

„Schau mal“, sagt er nach einer Stunde und kippt seine Skizze im Abendlicht, „durch unser ganzes Gequassel werden die Striche immer krummer, das ist gut“. Die Flethschleuse ist gut erkennbar. Er schraubt das Marmeladenglas auf und greift nach einem Pinsel mit Verschlusskappe. Seine runde, dünne Spitze eignet sich ideal für Aquarellanwendungen. Die Haare dieses Reisepinsels entstammen dem Schwanz eines sibirischen Eichhörnchens. Dank ihrer Struktur können sie sehr viel Farbe aufnehmen ohne zu tropfen. Jörg Schaupp taucht ihn ins Glas, dann in ein Töpfchen Rot und malt das Haus an, über den Rand hinaus.

„Das ist ja kein Malen nach Zahlen hier.“ Auf die Frage, wie er zum Malen gekommen sei, antwortet er: „Ich habe nie damit aufgehört.“ Heute genieße er den Luxus, seine Bilder zuhause stapeln zu können.

„Ich bin kein Künstler, ich bin Hobbymaler und sehr froh, dass ich bei Airbus arbeite und nicht mit dem Malen Geld verdienen muss.“ Parallelen aber sieht er durchaus.

Im Prinzip sei Aquarellmalerei wie Produktion. Als Werkleiter habe er ein Bild in seinem Kopf. Er wisse, wie das Werk im Idealfall laufen sollte. Er skizziert gewissermaßen den Weg. Die Herausforderung bestehe darin, mit Unvorhersehbarem umzugehen. Fehlendes Material, Personalengpässe, Maschinenausfälle – das sei wie Wasser beim Aquarellmalen, „es macht, was es will“.

Das Führungsteam bei Airbus in Stade legt Bypässe, um Engstellen zu umgehen und dennoch das Ziel zu erreichen. Freilich seien die Gestaltungsspielräume im Ausland oft um einiges größer gewesen, sagt er und lacht. „Die Kunst im Management ist es, eine Lösung zu kennen, aber offen zu bleiben für andere Wege. Am Ende des Tages ist vor allem das Zusammenspiel in unserer Mannschaft wichtig. Erfolg braucht Heterogenität der Gruppe.“

Jörg Schaupp schaut auf die Armbanduhr (keine Smartwatch) und schüttelt den Pinsel aus. Blassrote Sprengsel auf grauem Grund. Er schiebt den Block mit der Bleistiftskizze und dem kleinen Aquarell in den Rucksack. Später, irgendwann, wird er die Szene auf eine Leinwand bringen, 80 mal 60 Zentimeter. Vorerst geht es zurück an den Schreibtisch. Ein Meeting mit seinen Airbus-Kolleginnen und -Kollegen steht an.

Jörg Schaupp ist in Stade vor Anker gegangen. Wenn es nach ihm geht, lichtet er ihn nicht allzu bald.

Text: Leonie Ratje · Fotos: Volker Schimkus

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