Nachts im Modehaus

Nachts im Modehaus

Keiner ist mehr da. Keiner will Hemden und Hosen anprobieren. Das Modehaus Stackmann ist geschlossen. Doch dann, plötzlich Unruhe. Der Lastenaufzug öffnet sich und 16 kreischende Kinder stürmen mit ihren Taschenlampen die Herrenabteilung. Es ist der Beginn einer unvergesslichen Nacht voller Abenteuer und  magischer Momente für die Tigerklasse der Grundschule Horneburg.

Ungestört stöbern. Verborgene Ecken entdecken. Die unzähligen Regale und Abteilungen in einem neuen, geheimnisvollen Licht sehen. Nach Ladenschluss durch die dunklen Gänge schleichen. In gemütlichen Schlafsäcken übernachten und die magische Stille der verlassenen Ladenflächen genießen. Es ist der Traum von vielen: eine Nacht im Kaufhaus verbringen. Doch den meisten bleibt dieses Abenteuer verwehrt. Für die 4. Klasse der Grundschule Horneburg wurde dieser Traum jetzt aber zur Wirklichkeit. Fabian Stackmann hatte die Idee zur ungewöhnlichen Übernachtungsaktion. Der Kaufhauschef trifft immer wieder mal Freunde, Bekannte und auch ältere Kunden, die ihm berichten, dass sie sich noch an die „Voliere von damals“, die Eisenbahn in der Spielzeugabteilung, das Kekse backen zu Weihnachten oder das Kinderfenster erinnern. Stackmann: „Ich finde es großartig, dass durch unser Kaufhaus diese emotionalen Verbindungen und Erinnerungen entstehen können, die dann ein Leben lang bleiben.“ Aus dieser Begeisterung heraus ist die Idee zur „Nacht im Modehaus“ geboren. Das Team war gleich an Bord.

19 Uhr. Als die großen gläsernen Eingangstüren verschlossen werden, sind die Kinder schon längst beim Abendessen: Nudeln mit Tomatensoße. Na klar – das schmeckt allen. Fabian Stackmann richtet noch ein paar Worte an die Viertklässler.

Dann verlässt auch er sein Kaufhaus. Jetzt sind sie alleine.

Fast. Die Stackmann-Mitarbeiterinnen Dörte Ropers und Elgin Minners sind die Aufpasser in der Runde. Doch es gibt keine Regeln, keine Verbote, keine Instruktionen. Nichts. Es herrscht blindes Vertrauen. Mein Haus ist dein Haus. Kaputt gegangen ist bisher nichts und „das bisschen Unordnung“ ist schnell wieder behoben, so Fabian Stackmann. Zwischen eleganten Anzügen, unzähligen Gürteln und endlosen Reihen von Sakkos und Pullundern können sich die Kinder frei bewegen, als sei die zweite Etage ihr persönlicher Abenteuerspielplatz. Die Polizei Buxtehude weiß Bescheid: Heute Nacht könnten aufmerksame Nachbarn oder Passanten Menschen im Inneren des Kaufhauses sehen. Heute Nacht gehört das so.

Auf Anweisungen ihrer Lehrerinnen — sie sagen du und nennen sie Frau Poggi und Frau Kruppa — sind die Luftmatratzen und Isomatten im Nu ausgebaut: mehr Zeit zum Spielen. Verstecken spielen. Wieder blitzen die Lichter der Taschenlampen durch die Dunkelheit. Die Kinder huschen von Versteck zu Versteck, ihre Lichter mal hell und klar, mal gedämpft und schummrig, je nachdem, wie gut sie sich verbergen wollen. Ein Lichtstrahl erhellt plötzlich einen der zahlreichen Winkel der Herrenabteilung, gefolgt von einem überraschten Aufschrei und Lachen, als ein Versteckter entdeckt wird. Dann: ein lauter Pfiff ertönt.

Die Trillerpfeife der Klassenlehrerinnen soll es richten.

Die Kinder sollen zusammenkommen. Nach einer Auflistung von Vornamen der Kinder, die nicht direkt hören, versammeln sich schließlich alle Schulkinder um ihre Betreuerinnen. Das erste Highlight des Abends steht schließlich an: eine Tour mit den Taschenlampen durch die verschiedenen Abteilungen des Kaufhauses. Die Kinder haben sich in zwei Gruppen aufgeteilt. START steht auf dem Boden in großen Buchstaben. Und schon folgen die Taschenlampen den aufgeklebten roten Pfeilen. Schneller als der Wind rennen sie durch das verlassene Kaufhaus. „Vorsicht an der Rolltreppe“, ruft Carolin Poggi noch. Dann sind sie weg. Gar nicht so einfach, die Stufen der stillgelegten Rolltreppe herunterzulaufen. Dann sind auch Dörte Ropers und Carolin Poggi da. Bei den Kindern im Kinder-Paradies.

In der Spielwarenabteilung scheint die Spannung ihren Höhepunkt zu erreichen. Hier ist es stockduster. Die Lichter flitzen aufgeregt von Regal zu Regal, beleuchten kurz die bunten Verpackungen und die strahlenden Gesichter der Kinder. Ein Mädchen entdeckt eine Puppe, deren Augen im Licht der Taschenlampe gespenstisch aufleuchten. Immer wieder finden die Kinder rote Kreuze und Luftballons, an denen sie sich versammeln und Fragen beantworten müssen. Wie viele Marken gibt es bei Stackmann? Wie viele Mitarbeiter arbeiten bei Stackmann? Wie heißen die Chefs? Antworten wie „Spongebob“ oder „3“ machen es den Kids einfach, im Ausschlussverfahren zur Lösung zu kommen. „Wie cool ist das denn“, ruft ein Mädchen in die Dunkelheit. Was ihr gefallen hat, bleibt im Dunklen verborgen.

Es ist 21 Uhr. In der Schuhabteilung ist es hell. Die Abendsonne scheint durch die imposanten Schaufenster. Ein paar Mädchen richten ihre Blicke auf ein besonders schickes Paar Sneaker und flüstern begeistert über die leuchtenden Details. Jetzt geht es die Stufen der stillgelegten Rolltreppe empor durch die Damenabteilung zum Lastenaufzug. Kurze Stilberatung. Lehrerinnen und Stackmann-Mitarbeiterinnen versammeln sich um das Objekt der Begierde. Ein Kleidungsstück. Dann hechten sie den Viertklässlern hinterher. „Verwaltung“, steht an der nächsten Tür. „Voll krass“, ruft einer. Auf einmal stehen sie mitten im Figurenlager. Die Strahlen der Taschenlampen tanzen über aneinandergereihte Schaufensterpuppen. Allesamt nackt und kahlköpfig. Für einen Moment scheint es, als würden die Puppen im Licht der Taschenlampen lebendig werden. „Ihhhhh“, schreit ein Mädchen, und alle stimmen ein. Tür zu. „Hier gehen wir heute Nacht ganz bestimmt nicht nochmal rein.“ Rückzug. Das Büro vom Chef ist abgeschlossen. Im eleganten „Roten Salon“, dem Besprechungsraum, nehmen alle Kinder kurz Platz. Das Tageslicht blendet. Sie sind jetzt ganz oben im hell durchfluteten Dachgeschoss. Weiter geht‘s. Mit dem Fahrstuhl erreicht auch die zweite Gruppe wieder die Herrenabteilung. Der Fahrstuhl öffnet sich und plötzlich schreit eine Horde Jungs laut auf, springt den Mädchen mit den Taschenlampen entgegen. „Wollt ihr den Schatz suchen?“, fragt Elgin Minners. „Jaaaaa.“

Versteckspielen 2.0

Mit den Taschenlampen wirkt jedes Fleckchen der Herrenabteilung abgesucht. Die Kinder der 4. Klasse der Grundschule Horneburg huschen mit ihren Taschenlampen durch die Reihen von Anzügen und Hemden. Ihre Lichtstrahlen tanzen über die glänzenden Knöpfe und hängenden Krawatten, werfen lange, geheimnisvolle Schatten auf die Wände. „Da vorne könnte etwas sein!“ Die Kinder drängen sich zusammen, ihre Lichtkegel überlappen sich und durchdringen die Dunkelheit. Es herrscht ein riesiges Durcheinander, alle reden durcheinander. Überall wird gesucht. Plötzlich reflektiert ein metallischer Glanz das Licht der Taschenlampen. Der Schatz: ein silberner Koffer. Es hat sich schnell herumgesprochen. Alle Kinder eilen aufgeregt auf den Koffer zu. Acht Hände tragen ihn schließlich in die Mitte des Ganges. Ein Zahlenschloss versperrt das Innere. Die Kinder bilden einen engen Kreis, ihre Taschenlampen fest auf den Schatz gerichtet. Ein letztes Mal müssen sie eine Frage beantworten. Das Ergebnis geben sie als Zahlencode ein. Mit einem leisen Klicken öffnet sich der Koffer, und gespannt beugen sich die Kinder vor, um einen Blick auf den Inhalt zu werfen. Sie entdecken Schokolade, Leuchtstäbe und Luftballons. Die Lehrerinnen helfen beim fairen Aufteilen. Gleich wird alles ausprobiert und ausgepackt.

Nach der Erkundungstour finden sich die Kinder auf ihren Matratzen auf dem großen Platz an der Rolltreppe ein, der für diesen besonderen Anlass in ein kleines Kino verwandelt wurde. Drumherum liegen Rucksäcke, Wasserflaschen und geöffnete Koffer. Socken, Jacken, Schuhe. Das normale Chaos eines Kinderzimmers. Nur dass sie sich nicht zuhause befinden, sondern auf 15.000 Quadratmetern Verkaufsfläche mit Bekleidung, Mode, Schuhen, Accessoires, Uhren und auch Schmuck.

Schnuti und  Flauschi liegen auf den Decken, die Tigerente und Prinzessin Lillifee, alle sind dabei.

22 Uhr. Eigentlich soll jetzt Ruhe einkehren. Doch die Kinder verteilen sich schon wieder über die gesamte Herrenabteilung. Plötzlich erstarren sie. Tuttuttut. Ein Alarmsignal ertönt. Stackmann-Mitarbeiterin Elgin Minners hebt entschuldigend den Arm. Sie sucht den Stecker, um auch das restliche Licht des Rolltreppenschachts erlöschen zu lassen, und ist mit einem Kleiderständer an eine Sicherung gekommen.

Nach der kurzen Aufregung liegt das Modehaus Stackmann wieder still und verlassen da, die Regale und Kleiderständer sind in Dunkelheit gehüllt. Die Taschenlampen liegen neben den Matratzen, als der Film beginnt und die Abteilung in das warme Licht des Bildschirms getaucht wird. Im Hintergrund jagen ein paar wenige Kinder durch die Reihen. Fernsehgucken können sie auch zu Hause. Später, nach einer Gute-Nacht-Geschichte, kehrt dann komplette Ruhe ein.

1 Uhr. Alle schlafen. Auch die Lehrerinnen. Auch die Stackmann-Mitarbeiterinnen.

Viertel vor 6 Uhr. Die Nacht ist vorbei. Nach einer Frühsport-Einheit mit Frau Poggi wartet ein reichhaltiges Frühstück. Und dann die gespannten Eltern am Ausgang. Wenig später öffnet das Kaufhaus. Und alles ist wieder so wie immer.

Text:  Mona Adams · Fotos: Volker Schimkus

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