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Rocklegende, große Freiheit und Naturidylle im Paralleluniversum 

Durch eine prächtige Altländer Prunkpforte gelangen Besucherinnen und Besucher auf den Campingplatz „Neßhof“ in Guderhandviertel. Sie passieren gleichsam ein magisches Tor, das den Weg zur Parallelwelt Campingplatz und zu einem romantisch-verwunschenen Ort öffnet. Einst machte selbst Rocklegende Udo Lindenberg hier die Nacht zum Tag. 

Die Terrasse ist am Sonnabendnachmittag gut gefüllt, zur Anmeldung geht es in eine kleine Kneipe ohne Namen. An den Wänden hängen Portraits neben Fotos, alten Sätteln und Sprücheschildern. „Klookschieters und Meckerbüddels buten blieben“, steht auf einem. 

„Moin“, grüßt Campingplatz-Betreiberin Martina Hollmichel und winkt hinter dem Zapfhahn. Auf dem Fernseher in der Ecke läuft ein Fußballspiel, ein Gast blättert beim Weizenbier in einer Zeitung. Jörg Lindenbach kommt seit zehn Jahren aus Neustadt am Rübenberge zum Campen auf den Neßhof. „Es ist so herrlich familiär, und das Alte Land ist super zum Radfahren“, erzählt er. Dazu die Nähe zur Metropole Hamburg. Fünf Nächte verbringt er in diesem Jahr mit seinem Wohnwagen auf dem Neßhof. 

Badelatschen, Klappstühle, Plastikgeschirr. Grillfleischgeruch und Mückenspray. Die Campingwelt ist eine ganz eigene. Wer campt, ist umgeben von dünnen Wänden und Natur. Der Reiz liegt in der Verheißung, mobil und unabhängig zu sein. Draußen in der Natur, ohne komplett auf Komfort zu verzichten. Camping verspricht die große Freiheit und lehrt Genügsamkeit. Und spätestens beim Entleeren der Chemietoilette sind ohnehin alle gleich. 

Erster Camping-Boom in den Fünfzigerjahren

Die erste große Camping-Welle erlebte Deutschland in der Nachkriegszeit. Mit dem Wohlstand wuchs in den Fünfzigern der Wunsch nach Freizeit. Reisen mit Auto und Zelt war günstig und damit für viele Menschen die einzige Möglichkeit, in den Urlaub zu fahren. Heute ist es angesagter denn je, mit dem Wohnmobil die Welt zu erkunden. Die Übernachtungszahlen steigen seit Jahren. 2023 haben die Campingplätze in Deutschland laut Statistischem Bundesamt etwa 42,3 Millionen Übernachtungen verzeichnet. Das waren 5,2 Prozent mehr als 2022 und sogar 18,2 Prozent mehr als im Vor-Corona-Jahr 2019. Anfang 2024 waren in Deutschland knapp 908.000 Wohnmobile zugelassen, so das Kraftfahrt-Bundesamt. In Summe, mit Wohnwagen, sind rund 1,5 Millionen Freizeitfahrzeuge in Deutschland registriert.

Den Campingplatz Neßhof in Guderhandviertel gibt es seit 1972. Weil die Zeiten im Obstbau schwierig waren, schufen sich Malise und Burchard Heinbokel damals ein zweites Standbein. Inserate im Hamburger Abendblatt lockten Camper ins Alte Land. Viele Städter mieteten einen Sommerstellplatz für ihre Wohnwagen. Für den Airbus-Vorgänger MBB kamen französische Familien und lebten auf dem Campingplatz. „Für uns Kinder war das herrlich. Es war immer was los“, sagt Martina Hollmichel, die mit ihrem Bruder und ihrer Cousine Ulla Rosenbohm auf dem Campingplatz groß wurde.

Foto: Volker Schimkus
„Keine Panik“: Martina Hollmichel zeigt Udo Lindenbergs Gästebucheintrag.

In den Siebziegerjahren haben auch einige Hamburger Unternehmen ihre Firmenfeste auf dem Neßhof gefeiert. Sanitäre Anlagen waren wegen des Campingbetriebs vorhanden, Gastwirte aus der Umgegend haben Getränke ausgeschenkt, und Malise Heinbokel hat Kaffee und Butterkuchen serviert. Karussells wurden aufgebaut, Apfeltauchen war ein Renner, Neßhof-Baumpatenschaften wurden vergeben. Just in dieser Zeit steigerte nicht nur der kleine malerische Campingplatz an der Elbe seine Bekanntheit. 

Lindenberg feiert sein Goldalbum auf dem Neßhof

Auf der anderen Elbseite startete ein gewisser Udo Gerhard Lindenberg seine Karriere als Rocksänger. Er landete seine ersten Radiohits und gründete 1973 das Panikorchester. Die Platte „Ball Pompös“ erschien im August 1974, kletterte bis auf Platz drei der deutschen Album-Charts und hielt sich insgesamt zwölf Monate lang in der Hitliste. „Klar, das Panikorchester war bekannt“, sagt Martina Hollmichel. „Die haben früher auch im MicMac in Moisburg gespielt.“

Udo Lindenbergs Plattenfirma Teldec entschied, die Verleihung seiner ersten Goldenen Schallplatte für „Ball Pompös“ im Alten Land zu feiern – auf dem Hof der Familie Heinbokel. Ein Dampfer brachte Lindenberg und Gäste am 13. Juni 1975 über die Elbe zum Lühe-Anleger. Burchard Heinbokel hat das Feiervolk mit Trecker und Anhänger auf den Apfelhof gefahren. Die Band „Truck Stop“ spielte auf der großen Bühne, Otto Waalkes setzte sich auf den kleinen Obsthof-Trecker, Gerhard Böttger haute in die Piano-Tasten, und Udo Lindenberg mischte sich unter die Leute. Es gab Bier vom Fass und Wurst vom Grill. „Das ganze Dorf war auf den Beinen, auch der Bürgermeister war da“, erinnert sich Martina Hollmichel. Der trug sogar ein rotgeringeltes T-Shirt der Plattenfirma mit „Votan Wahnwitz“-Print, einer weiteren Goldplatte von Udo Lindenberg und seinem Panikorchester, die wenige Wochen vor der Party im Alten Land erschienen war. 

Ulla Rosenbohm schnackte mit Udo Lindenberg. Dass er sein Jackett erst tags zuvor auf dem Flohmarkt gekauft habe, erzählte der Sänger der 18-Jährigen. Später hat er sich ans Schlagzeug gesetzt und gemeinsam mit Truck Stop gespielt. „Gesungen hat er aber nicht“, sagt Ulla Rosenbohm. Immerhin hat sich die Rocklegende im Neßhof-Gästebuch verewigt. „Keine Panik“, steht darin. Unterschrieben mit Udo Lindenberg. 

Ulla Rosenbohm war an diesem besonderen Abend als Autogrammjägerin auf dem Obsthof unterwegs. Auf der Rückseite einer Postkarte mit dem Konterfei von Udo Lindenberg hat der Rockstar unterschrieben. Otto Waalkes hat einen Ottifanten darauf gemalt. Die ersten dieser im Comicstil gezeichneten Elefanten waren 1973 auf einem Plattencover von Otto zu sehen. Die Autogrammkarte hat Ulla Rosenbohm heute noch. Wie auch das Foto, das sie und Otto Waalkes zeigt. „Er hat mir ins Ohr geflüstert, dass ich ihm einen Kuss auf die Wange geben soll“, erzählt sie. Als dann der Fotograf kam, habe er laut „Jetzt! Jetzt“ gerufen.

Ulla Rosenbohm und Martina Hollmichel blättern im Fotoalbum und schwelgen in Erinnerungen, als Martina Beythien hereinkommt. Sie verbringt den Sommer mit ihrem Lebensgefährten Armin Hildenbrand auf dem Campingplatz. Zur Begrüßung gibt es eine herzliche Umarmung. „Kommt ihr später noch rum?“, fragt die Camperin. Ulla Rosenbohm nickt. In den Camping-Jahrzehnten seien einige Freundschaften entstanden, erzählt sie. Die Gemeinschaft unter Gleichgesinnten mache einen großen Teil der Faszination Camping aus. 

100 Plätze hat der Neßhof

Martina Hollmichel hat den Betrieb 1997 übernommen, nachdem sie eine Gärtnerinnen-Lehre und ein Biologie-Studium absolviert hatte. Ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen forschen in aller Welt, sie aber zog es zurück in die Heimat. Schrittweise hat sie den Platz modernisiert. Neue Stromkästen, WLAN, Anschlüsse für Wasser und Abwasser, erneuerte sanitäre Anlagen. „Die Leute werden immer anspruchsvoller“, sagt sie.

100 Plätze und ganz viel Grün: der Campingplatz Neßhof in Guderhandviertel.

Während immer mehr Campingplätze mit Pools, Gaming-Lounge, Spielplätzen und Animationsprogramm zu Ferienparks werden, liegt der Charme des Neßhofes in seiner Naturbelassenheit. Ein eigentümlich verwunschener Ort mit Gelassenheit statt strenger Ordnung. Hier ist nicht jeder Meter durchparzelliert. Wer sich morgens in der Früh aus dem Wohnwagen oder Zelt schält, sieht in den ersten Sonnenstrahlen Pferde auf der taunassen Weide grasen. Das ist so übertrieben kitschig, dass es schon wieder gut ist. 

40 Plätze auf dem Neßhof sind von Dauercamper belegt, 60 weitere stehen Touristen zur Verfügung. An manchen Tagen sei das ein logistisches Puzzlespiel sagt Martina Hollmichel und lacht. Manche Gäste urlauben hier wochenlang, andere schneien nur auf der Durchreise rein. Urlauber mit Dachzelten auf ihren Autos, die ein oder zwei Nächte bleiben. Radfahrer, die auf dem Obsthof ihre Zelte aufschlagen. Sowohl der Jakobsweg als auch der Elbe-Radwanderweg und die Hanseroute führen unmittelbar am Platz vorbei. 

Als Dauercamper haben Martina Beythien und Armin Hildenbrand den Urlaub zum Alltag ernannt. Vor ihrem Wohnwagen mit Vorzelt haben sie es sich an diesem Abend mit Ulla Rosenbohm, ihrem Lebensgefährten Karl-Heinz Gründahl sowie Rosemarie und Klaus Strauch aus Nottensdorf gemütlich gemacht. Kalte Getränke, warmes Lachen. „In Norddeutschland braucht man keine Einladung“, sagt Armin Hildenbrand. „Sobald die Stühle draußen stehen, geht’s los.“ Seit 2019 steht ihr Wohnwagen dauerhaft auf dem Neßhof. Regelmäßiger Heimaturlaub für Martina Beythien, die viele Jahre in Nottensdorf gelebt hat. Die übrige Zeit des Jahres leben die beiden im Harz – oder unternehmen weitere Touren. „Man lernt beim Campen immer jemanden kennen“, sagt sie. Vor Corona sei Campen überall schön gewesen, sagt Armin Hildenbrand, „seitdem ist es leider vielerorts überfüllt, und die Preise sind enorm gestiegen“. Den Neßhof schätzt das Paar wegen der Ruhe. Sie genießen die Spaziergänge an der Elbe, pflücken Obst in der Plantage, kochen in der Vorzeltküche – Alltagsleben auf dem Campingplatz. 

Campingsaison von O bis O

Von Ostern bis Oktober geht die Saison in Guderhandviertel. Die Campinggemeinde an der Elbe pflegt feste Rituale. Freitags ist Pizza-Abend, Mittwoch ist Matjes-Tag. An allen anderen Tagen grillt Martina Hollmichel abends nach Bedarf für ihre Gäste. Weil immer mehr Lokale in der unmittelbaren Nähe schlossen, hat sie ihr Angebot erweitert und 2012 die Kneipe im ehemaligen Kuhstall eröffnet. In der Regel ist sie bis 20 Uhr da, freitags auch mal länger. Dann versammeln sich nicht nur Gäste auf der Terrasse, um die Neßhof-Pizza aus dem Ofen zu genießen.

Marco und Viola Ruanova aus dem Siegerland sind zum ersten Mal da und Camping-Neulinge. 2023 haben sie sich einen Bus ausgeliehen und ein langes Wochenende an der Mosel verbracht. Das habe ihnen so gut gefallen, dass sie in diesem Jahr zwei Wochen unterwegs seien, erzählt Viola Ruanova. „Beim Camping lernt man nette Leute kennen, es ist sehr gesellig, zugleich hat man aber auch seine Ruhe.“ Nach einer Woche am Friesensee in Jever genießen sie jetzt den Urlaub an der Elbe. „Es war klar, dass wir ins Alte Land fahren“, sagt Marco Ruanova, auf den Neßhof seien sie zufällig gestoßen. Ein Schuss ins Blaue, voll ins Schwarze getroffen. „Es ist traumhaft hier.“ 

Aus dem Kneipenradio dudelt Billy Joels „Piano Man“, Jörg Lindenbach lässt sich ein Kotelett schmecken, mit dem Sommerwind weht Gelächter über den Platz. Zwei Frauen auf Rädern fahren durch die malerische Prunkpforte. Late-Check-in nach 85 Kilometern auf dem Fahrradsattel. Ihre Tagesetappe hat die Niederländerinnen von Otterndorf entlang der Elbe ins Alte Land geführt. Annet Guns und Esther Jager entscheiden sich dagegen, ihr Zelt aufzubauen und mieten eines der urigen Schlaffässer. Die beiden sind auf dem Nordseeküsten-Radweg unterwegs. Von Leer über Emden und Wilhelmshaven ging es nach Bremerhaven, dann weiter nach Cuxhaven und am südlichen Elbufer bis Guderhandviertel. „Wir wollen sehr einfach reisen, wenig Luxus, Low-budget“, sagt Annet Guns. 

Brötchen bringt der Frosch

Allmählich kehrt auf dem Campingplatz Ruhe ein. Markus Neve schlurft in der Abenddämmerung über den Campingplatz. In Bademantel und Schlappen, den Kulturbeutel unter den Arm geklemmt. Seit sechs Tagen ist er mit seiner Frau Bettina auf dem Neßhof. Eine Nacht im Wohnmobil kostet für zwei Personen 26 Euro, der Strom wird nach Verbrauch abgerechnet. „Wir sind schon ewig Camper. In diesem Jahr waren wir erst im Harz und haben uns dann spontan für das Alte Land entschieden“, sagt er. Gemeinsam fahren sie Rad, wandern und genießen das Leben in der Natur. 

Um 7 Uhr am nächsten Morgen bringt der Frosch die Brötchen von der Bäckerei Pfeiffer aus Steinkirchen. Am Steuer des Elektrofahrzeugs: Neßhof-Mitarbeiterin Christa Schwanemann. 20 Tüten mit den Bestellungen der Campinggäste liegen kurz darauf bereit zur Abholung. Wer mag, kann sich auch ein komplettes Frühstück servieren lassen. 

Annet Guns und Esther Jager sitzen mit einem Becher Kaffee vor ihrer Holztonne. „Wir haben sehr gut geschlafen“, sagt Annet Guns. Ihre Fahrradtaschen sind gepackt. An diesem Tag wollen sie die Elbe überqueren und dann über Brunsbüttel, St. Peter Ording und Husum bis nach Klanxbüll an der deutsch-dänischen Grenze fahren. Martina Hollmichel winkt, als die Frauen in die Pedale treten. Wenig später rollt Jörg Lindenbach mit seinem Wohnwagen vom Obsthof. Bis Sonntagmittag checken einige Gäste aus, nachmittags trudeln neue ein. 

 „Zuhause ist da, wo wir parken“, ist ein beliebter Spruch unter Campern.
Udo Lindenberg singt: „Wo ich meinen Hut hinhäng‘, da ist mein Zuhause.“

Text:  Leonie Ratje · Fotos: Volker Schimkus

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