Volkmar Dinglinger besteht darauf, dass er kein Müller ist. Im Grunde hat er damit ja recht. Erlernt hat er das Müller-Handwerk nicht. Andererseits: Die Venti Amica in Hollern-Twielenfleth bringt er auch ohne Gesellenbrief zum Laufen. Und seine Kunden rennen ihm die Mühlentür ein.
Text: Leonie Ratje · Fotos: Volker Schimkus
„Nee, wirklich nicht, da habe ich beim besten Willen keine Zeit für“, ruft Volkmar Dinglinger ins Telefon, als er Anfang März um ein Interview gebeten wird. Der Krieg in der Ukraine lässt Menschen Mehl hamstern. Viele erinnern sich angesichts leerer Supermarktregale an die Mühlen in der Region. Der Run aufs heimische Mehl bringt Dinglinger an seine Kapazitätsgrenzen.
Ein paar Wochen später erklärt er sich dann doch bereit. Ausnahmsweise sind die Regale im Shop der Venti Amica an diesem Vormittag gut gefüllt. Weizen-, Roggen- und Dinkelmehle, Vollkornschrot, Müsli, Backmischungen (Fienbrodmehl, Sünndachstuten, Swattbrodmehl) und Tierfutter. „Das sieht heute Abend wieder ganz anders aus“, sagt Dinglinger. Wann immer der Wind weht an der Elbe im Alten Land, schmeißt er die Mühle an und sorgt für Nachschub. Bäcker Pfeiffer aus Steinkirchen gehört wie viele andere Bäckereien zu seinen Kunden. Gerade hat er den halben Hamburger Frühlingsdom mit Mehl versorgt. Von Montag bis Freitag öffnet der Mühlenladen von 14 bis 18 Uhr seine Türen. Außerdem gibt es einen Online-Shop. Der allerdings schließt momentan immer mal wieder, weil die Nachfrage Dinglingers Möglichkeiten übersteigt. „Es ist genug Getreide da“, sagt er, „die Lager sind voll. Aber ich komme mit dem Abpacken nicht hinterher.“
Dinglinger ist Brennmeister. Sein Vater hatte einen Betrieb in Cottbus, er selbst war als Anlagenbauer in ganz Europa, vor allem im Osten, unterwegs. „Ich war nur am Wochenende zuhause bei meiner Frau und meinen Söhnen, das hat mich genervt“, erinnert er sich. Überdies ließ ihm die Geschichte seiner Eltern keine Ruhe. Die Mutter erkrankte schwer an Krebs, kurz nachdem der Vater in den Ruhestand gegangen war. Sie verstarb wenig später. Die Reisen, auf die sie sich so gefreut hatten, haben sie nie unternommen.
2019 veränderte ein Motorradunfall das Leben von Volkmar Dinglinger. Er lag mit gebrochenem Wirbel in der Dunkelheit eines Straßengrabens, bis er gefunden und gerettet wurde.
Der Rekonvaleszent war in dieser Zeit ähnlich kopflos wie die Mühle Venti Amica, deren Flügel und Galerie im Juni 2017 durch einen Sturm zerstört wurden. Seit Herbst 2019 sicherte ein Notdach die Mühle, die Mühlenhaube stand auf dem Boden.
Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, unternahm er viele Spaziergänge und lief immer wieder an der ältesten Windmühle des Alten Landes vorbei. Er interessierte sich für die Renovierungsarbeiten, kam ins Gespräch mit Müller Hein Noodt und Mitgliedern des Mühlenvereins, der mehr als 170000 Euro aus Spenden und Fördermitteln für den Wiederaufbau eingeworben hatte. Der vorherige Pächter der Mühle hatte aufgegeben, eine Stilllegung der Mühle stand im Raum. „Und dann habe ich Hein gefragt, ob er sich vorstellen könnte, dass ich hier weitermache.“
Seit dem 1. Januar 2020 ist Volkmar Dinglinger Pächter der Venti Amica. Wenig später hob das Coronavirus die Welt aus den Angeln. Normalbetrieb kennt der Neu-Müller nicht. Learning by doing stand während der ersten Wochen auf seinem Programm – und gilt im Grunde bis heute. „Den Umgang mit Getreide kannte ich aus meiner Brennerei-Zeit“, sagt er, „da habe ich aber mit computer-
gesteuerten Anlagen gearbeitet.“ In der Mühle ist Handarbeit gefragt. Hier geht es ums Fühlen, ums Riechen, ums Hinhören.
Über eine Schnecke gelangt das Getreide aus den Speichern in die Mühle. Nach der ersten Reinigung läuft es in eine Chronos-Waage von 1883. Ein Becherwerk (Elevator) mit Behältern an einem rollierenden Gurt fördert das Getreide nach oben, wo es an der Umkehrstation in einen Entlade-Behälter kippt.
Bereits seit 1331 gibt es dort, wo heute die Venti Amica steht, Windmühlen. Fast 500 Jahre lang waren es Bockwindmühlen. Die letzte ist einem Sturm umgekippt und hat den Müller mit sich begraben. Daraufhin wurde an diesem Standort die erste Holländerwindmühle mit drehbarer Haube errichtet. 1848 brannte die Mühle bis auf die Grundmauern nieder. Nach ihrem Wiederaufbau kaufte Lambert Noodt aus Uetersen den Galerieholländer 1851 für seinen Sohn. Seitdem befindet sich die Twielenflether Mühle im Besitz der Familie.
Die bewegte Geschichte der letzten funktionsfähigen Mühle im Alten Land fasziniert den heutigen Pächter. Der Mann hat sich nach Entschleunigung gesehnt und fand sie unter den Flügeln der Mühle. „Ich wollte keinen Stress mehr, wollte was Schönes machen, etwas, das mir Spaß macht“, sagt er. „Was jetzt gerade hier abgeht, widerspricht eigentlich meiner Philosophie. Aber als Versorger trage ich Verantwortung.“
Mit Kriegsbeginn in der Ukraine stiegen die Getreidepreise und die Nachfrage nach Mehl.
Dinglinger verkauft seitdem dreimal so viel wie im Normalbetrieb. Es kommen mehr Kunden und die kaufen größere Mengen. Zahlen nennt der Mühlenbetreiber nicht. Er betont, dass es keinen Engpass gebe. Problematisch würde es, wenn die kommende Getreideernte wegen des Krieges ausfalle. Knapp 30 Prozent des weltweit gehandelten Weizens stammt aus der Schwarzmeerregion. Wenn die fehlten, würden die Preise massiv steigen. Das wiederum bedeute große Hungersnot für viele Menschen in Entwicklungsländern.
Volkmar Dinglinger steigt eine weitere Stiege hinauf. Auf der Unterseite der Treppenstufen, die durch fünf Stockwerke führen, haben sich frühere Besucher verewigt. Wetterphänomene wurden notiert – 23. Februar 1910: Schneesturm, 17. Februar 1962: Sturm mit Deichbrüchen – und Getreidepreise. Auch einige Anzüglichkeiten, die hier unerwähnt bleiben.
Volkmar Dinglinger öffnet eine Klappe. Darunter dreht sich der Mühlstein. „Wenn die Steine zu eng stehen, riecht das Mehl mineralisch“, sagt er. Ist das der Fall, justiert der Müller den Stein neu. Dinglinger öffnet ein Rohr, das vom Mahlgang zu einem Behälter führt, und greift hinein. Frisches Roggenschrot rieselt durch seine großen Hände. Er atmet ein. „Mmmmh, frisch gemähtes Gras spielt in der derselben Liga“, schwärmt er.
Eine Tür führt hinaus auf die Galerie, die einen freien Blick auf die Elbe schenkt. Leuchtturm, Kirche, Mühle, das sind die Wahrzeichen Hollern-Twielenfleths. „Der Rückhalt aus dem Dorf ist großartig“, sagt der Mühlen-Pächter. Der Mühlenverein unterstützt beim Erhalt des historischen Gebäudes. Demnächst muss das Dach erneuert werden. „So viel wirft die Mühle nicht ab. Ohne die vielen freiwilligen Helfer hier würde ich das nicht schaffen.“
Während die Mühle ihr Werk verrichtet, füllt Dinglinger Säcke. Auch dabei bekommt er Unterstützung, für die er insbesondere in diesen hektischen Tagen dankbar ist.
Seit einigen Wochen muss er an der Ladentheke darauf bestehen, dass Mehl nur in haushaltsüblichen Mengen gekauft wird. „Ich verkaufe gern auch 25 Kilogramm, aber dann in einem großen Sack. Ich fülle das nicht in kleine Gebinde, die einer allein aufkauft.“
Neben einem Mühlenfenster auf dem dritten Boden steht eine Bank. Wer dort sitzt, sieht im Augenwinkel die Flügelenden vorbeisausen. 60 Flügelenden in der Minute bedeuten 15 Flügelkreuzdrehungen und damit etwa 110 Umdrehungen des Mühlensteins – Optimalgeschwindigkeit. Weil der Wind unterschiedlich stark bläst und damit die Feinheit variiert, wandert das Roggenschrott in einen Mischer, der mit einer Rührschnecke die Bildung von Schichten verhindert. Dinglingers Kunden wünschen ihr Vollkornschrot in gleichbleibender Körnung.
Der Müller, der keiner ist, freut sich auf den Abend, wenn er den Mühlenbetrieb mit unzähligen gefüllten Säcken, jeder Menge zufriedener Kunden und einer Tonne frischem Roggenschrot beendet.