Nachts in der Apotheke

Ein fieberndes Kind, ein pochender Zahn, ein geplatztes Kondom: Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen, sagte schon John Lennon. Und weil sich die kleinen und großen Katastrophen nicht an Öffnungszeiten halten, gibt es den Apotheken-Notdienst. Die Deichlust hat Apothekerin Ursula Jaenicke-Münzel eine Nacht lang begleitet.

Apotheken sind verpflichtet, die Bevölkerung jederzeit mit Arzneimitteln zu versorgen. Darum hat immer eine Apotheke in der Nähe geöffnet – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr. In Niedersachsen stehen täglich rund 130 Apotheken außerhalb ihrer Öffnungszeiten zur Verfügung. Ausgeklügelte Pläne regeln den Notdienstbetrieb; die Apothekerkammer bestimmt den Turnus. Um 18 Uhr schließt Ursula Jaenicke-Münzel die Eingangstür der Gräfen-Apotheke.

Wer jetzt etwas braucht, drückt den Notdienstklingelknopf  und  spricht durch die Notdienstklappe mit der Apothekerin. Viele kommen direkt von der Notfallversorgung im Krankenhaus oder lösen Rezepte der mobilen ärztlichen Versorgung ein. Auch akute Beschwerden führen dazu, für eine Selbstmedikation mit Schmerzmitteln oder anderen Arzneien die Notdienst-Apotheke aufzusuchen.

Ursula Jaenicke-Münzel hat alle 14 Tage Notdienst. Rund 1.400 Notdienste hat sie seit 1985 zusätzlich zum normalen Tagesdienst geleistet. An Feiertagen, Sonnabenden und Sonntagen oder eben in der Nacht. Manchmal sei das gemütlich, sagt sie, aber auch anstrengend oder herausfordernd. Nie weiß sie, ob sie etwas Schlaf bekommt.

Die Apothekerin setzt sich nach hinten ins Notdienstzimmer, das jede Apotheke haben muss. Zeit für Buchhaltung, Rezeptabrechnung, Fachliteratur oder Schaufensterdekoration. Als die Kinder noch klein waren, haben sie sie gelegentlich begleitet.

Notdienst am Heiligabend, an Silvester oder den Osterfeiertagen – das war mehrfach ein Fest für die ganze Familie. „Die pharmazeutischen Berufe sind sehr familienfreundlich“, sagt die Apothekerin, „ein wohnortnaher Arbeitsplatz, mögliche Teilzeitarbeit und flexible Arbeitszeiten.“

20.30 Uhr. Allmählich legt sich Dunkelheit über das Alte Land. Eine junge Frau klingelt und bittet um ein Mittel gegen Durchfall. Ein Notdienst-Klassiker. Rund 20.000 Menschen nutzen in Deutschland Nacht für Nacht den Apotheken-Notdienst. Ursula Jaenicke-Münzel betont, dass es nicht nur um lückenlose Versorgung, sondern auch um kompetente Beratung gehe. Die achtlose kombinierte Einnahme von verschiedenen Medikamenten könne zu schwerwiegenden Komplikationen führen, auch bei nicht verschreibungspflichtigen Präparaten. Darum fragt sie gründlich nach, informiert über die korrekte Einnahme. „Das kann eine Online-Apotheke nicht leisten.

Früher seien auch mal Drogensüchtige gekommen, um Spritzen zu kaufen, erzählt die Apothekerin. Hin und wieder gebe es anzügliche Anrufe.

Eine Sortimentsbeschränkung außerhalb der Ladenöffnungszeiten gilt in niedersächsischen Apotheken nicht. Wer also nachts dringend Gesichtscreme, Lakritze oder Kondome kaufen möchte, kann das in einer Notdienstapotheke tun. Ursula Jaenicke-Münzel wird an der Notdienstklappe mit allen möglichen Wünschen konfrontiert. Muss ein Schwangerschaftstest mitten in der Nacht gekauft werden? Ist eine verstopfte Nase ein Notfall? Warum wird das drei Tage alte Rezept um 4 Uhr in der Früh eingelöst? Fragen, die sich die erfahrene Apothekerin längst nicht mehr stellt. 1985 hat sie die Apotheke am Estedeich in Estebrügge gegründet. 2004 kam die Gräfen-Apotheke in Jork als Filialapotheke dazu. 2012 hat sie die Estebrügger Apotheke geschlossen und die Buxtehuder Altstadt-Apotheke in der Breiten Straße eröffnet. Nach acht Jahren bleibt die Gräfen-Apotheke im Alten Land. Und obschon sie das Renteneintrittsalter erreicht hat, denkt Ursula Jaenicke-Münzel nicht an Ruhestand.

„Ich genieße meine Arbeit, brauche den Austausch, die geistige Anregung.“

Bald wird ihre älteste Tochter als Apothekerin in den Betrieb einsteigen und sie unterstützen. 23 Uhr, in der Apotheke brennt noch Licht. Es klingelt. Ursula Jaenicke-Münzel eilt nach vorn, öffnet die Klappe. Ein Mann fragt nach einem Nasenspray. Die Apothekerin greift das Spray aus dem Regal und reicht es ihm. „Nehmen Sie Medikamente?“, fragt sie. „Nicht häufiger als dreimal am Tag und nicht länger als eine Woche benutzen.“ Zusätzlich zum Verkaufspreis wird eine Notdienstgebühr in Höhe von 2,50 Euro erhoben. Die wird pauschal zwischen 20 Uhr und 6 Uhr fällig – unabhängig von der Menge oder dem Wert der gekauften Medikamente. Außerdem bekommen die Apotheken für jeden geleisteten Notdienst eine von der gesamten Apothekerschaft finanzierte Notdienstpauschale vom Deutschen Apothekerverband. Über die Legende von der Apotheke als Goldgrube lächelt Ursula Jaenicke-Münzel müde. Die finanzielle Situation in den Apotheken habe sich infolge der Gesundheitsreformen dramatisch verändert, sagt sie. „Immer mehr Apotheken schließen, gerade ländliche Regionen sind zunehmend unterversorgt und der Personalmangel macht uns ebenfalls zu schaffen.“ Die Einnahmen einer Apotheke sind im Wesentlichen unabhängig vom Preis einer Arznei.


Die erfahrene Apothekerin legt viel Wert auf kompetente Beratung und genießt ihre Arbeit.

Die Arzneimittelpreisverordnung legt fest, dass eine Apotheke für die Abgabe eines verschreibungspflichtigen Medikaments einen pauschalen Festbetrag in Höhe von 8,35 Euro erhält und zwar unabhängig davon, ob das Präparat 30 Euro oder 10.000 Euro kostet. Zusätzlich gibt es einen Festzuschlag in Höhe von drei Prozent des Grundpreises des Arzneimittels. Sehr teure Medikamente bedeuten also keineswegs immense Gewinne. Tatsächlich können sie eine Apotheke aber schwer belasten. In dem Moment, wenn die Apotheke das Medikament abgibt, hat sie ihren Großhandel oft bereits bezahlt. Sie geht finanziell also in Vorleistung. Das Rezept, das Ursula Jaenicke-Münzel im Gegenzug über die Verrechnungsstelle mit den Krankenkassen abrechnet, wird oft erst später erstattet.

Kurz nach Mitternacht klingelt das Telefon. Viele Patienten rufen an, bevor sie sich auf den Weg machen. „Nein, da muss ihre Freundin selbst herkommen“, sagt die Apothekerin. Ein kaum zu verstehender Mann, womöglich alkoholisiert, möchte die „Pille danach“ für seine Partnerin haben.

Es vergehe kaum ein Notdienst ohne die „Pille danach“, sagt die Apothekerin.

Diese ist aus der Verschreibungspflicht herausgenommen, also frei verkäuflich, aber beratungsintensiv. Nicht in jedem Fall macht eine Einnahme Sinn. Nach dem Eisprung ist das Medikament, das den Eisprung verzögert, nicht mehr wirksam. Darum fragt die Apothekerin die Frauen in der persönlichen Beratung immer nach dem ersten Tag der letzten Menstruationsblutung. Nachtschicht in der Apotheke – Aufklärung an der Notdienstklappe inklusive. Die Freundin des Anrufers kommt in dieser Nacht nicht mehr vorbei. Dafür aber kurz darauf der Vater eines zweieinhalbjährigen Kindes mit Brechdurchfall. Die meisten Patienten sind dankbar, wenn ihnen im Notfall geholfen wird. Vor kurzem erst hat eine junge Mutter erleichtert geweint, als Ursula Jaenicke-Münzel ihr Paracetamol Zäpfchen für ihr hochfieberndes Neugeborenes verkaufen konnte. „Sie hatte schon alle Apotheken in der Gegend angerufen und war so froh, als sie Hilfe bekam, dass ich fast mitweinen musste“, erinnert sich die Apothekerin. Nicht nur bei Fiebersäften für Kinder und Penicillin gibt es seit längerer Zeit Versorgungsengpässe. Monatelang hatten Patienten mit Durchfall oder Erbrechen das Nachsehen, weil die in diesen Fällen wirksamen Elektrolyte als Wundermittel gegen Kater nach reichlichem Alkoholkonsum gefeiert wurden.

Spät in der Nacht rumpelt es vorn in der Apotheke. Der Großhändler schiebt die Kiste mit bestellten Medikamenten durch die Schleuse. Binnen 24 Stunden wird die Gräfen-Apotheke sechsmal beliefert. So kann sie die Patienten innerhalb von vier Stunden mit Medikamenten versorgen.

Gegen 1 Uhr legt sich die Apothekerin auf das Bett im Notdienstzimmer, den Kittel griffbereit. Manchmal hat sie Glück und es kommt niemand mehr. Auf dem Land seien die Nachtdienste deutlich ruhiger als in der Stadt, sagt sie. Richtig schlafen könne sie aber nicht. Um 8 Uhr kommen die Kolleginnen und bringen Kaffee und Brötchen zur Stärkung mit. Auf die lange Nacht folgt ein langer Tag.

Deichlust

Text: Leonie Ratje · Fotos: Volker Schimkus