KOLUMNE: HIER SCHREIBT DIE JOURNALISTIN UND MUTTER
Sommer 2023. Regen und Rammstein und Robert Sesselmann. Chapeau an alle, die da kein Trübsal geblasen haben. Die gute Nachricht ist: Wir müssen das nicht ohnmächtig ertragen. Ich kann vielleicht nicht die Welt verändern. Meine Welt aber schon. Vier Herzen unter acht Milliarden. An dem Drehbuch zu dem Film, der unser Leben ist, schreibe ich mit. Ich bin ein 90er-Mädchen. Buffalos, Blue Curacao, Bravo Girl. Permanente Bewertung gehörte zu meinem Aufwachsen wie der Gameboy und Kurt Cobain. Zu dick, zu dünn. Zu laut, zu zickig, zu irgendwas. Ich träumte von Leonardo di Caprio und die Zeitschriften im Dorfladen zeigten, was wichtig ist: gefallen. Wie werde ich zur Beauty-Queen? Zehn Tricks, um ihn zu verzaubern.
Männliche Begierde, weibliche Opfer. Niemals mein Glas aus den Augen lassen. Und nicht allein im Dunkeln nach Hause gehen. Frühe Lektionen. Die Frage, wie sich Mädchen und Frauen vor männlicher Gewalt schützen können, ist wichtig. Aber sie führt nicht zur Lösung.
Wer sind die Söhne, die zu Tätern werden?
Zuhause nehme ich meine Jungs, 5 und 8, in den Blick. Gleichberechtigung fängt nicht bei gleichen Löhnen an. Respekt, Empathie und Nächstenliebe haben ihren Ursprung in der Weise, wie wir miteinander umgehen und übereinander sprechen. Wir reden viel darüber, dass ein Nein ein Nein ist. Immer. Ich erkläre ihnen, dass ihr Körper nur ihnen gehört, und erinnere mich an die vielen Male, bei denen meine Grenzen eingerissen wurde. Meine Söhne werden nicht im luftleeren Raum groß, sondern in historisch gewachsenen Kontexten. Geschlechtsstereotype und Sexismen überall. Mein Großer war vier, als er im Kindergarten ausgelacht wurde, weil er ein Kleid trug. Seitdem hängt es im Schrank, allen diversen Kinderbüchern in seinem Regal zum Trotz.
Aber ich bleibe überzeugt, dass Liebe regelt. Ich bin ein Mensch, ich mache Fehler. Meine Kinder wissen das. Vor allem aber wissen sie, dass sie geliebt sind. Und dass alle Gefühle sein dürfen. Angst, Wut, Freude, Scham, Trauer. Gemeinsam lernen wir, die Wellen des Lebens zu reiten, ohne unterzugehen.
Der Sommer 2023 war auch der, in dem ich 40 wurde und meine Oma starb. Zum Geburtstag schenkte sie mir ihre goldene Uhr. Sie, die immer so viel Wert daraufgelegt hatte, sich schick zu machen, trug zuletzt keinen Schmuck mehr, ihre Haut war dünn geworden wie Pergament. Auf ihrem Nachttisch stand bis zum Schluss ein Bild meines Opas und sie löste sich langsam auf. „Ich mag auch nicht mehr“, hat sie zuletzt oft gesagt.
Wenn jemand stirbt, den man liebt, bleibt die Zeit kurz stehen.
Meine Jungs sind traurig und ich sage ihnen, dass sie es sein dürfen. Dass ich es auch bin und glücklich zugleich, weil ihre Ur-Oma wieder bei Ur-Opa ist. Und dass sie ganz sicher sein können, dass die Liebe bleibt. Und alles, was war. In dieser wunden Zeit ergeben Kalendersprüche plötzlich Sinn. Weil es tatsächlich gar nicht um das Happy End geht, sondern um die Geschichte deines Lebens.
Ich schaue auf die Uhr an meinem Handgelenk. Das mit der Zeit ist eine seltsame Sache. Während das Leben meiner Oma in den vergangenen Jahren immer langsamer wurde, wurde meines immer schneller. Die mittleren Jahre, Rushhour des Lebens.
Im Rückblick ziehen die acht Jahre meiner Mutterschaft wie im Zeitraffer vorbei. Schlaflose Nächte, erste Schritte. Ein Kind an der Hand, das zweite im Bauch. Ein Haus bauen, das Baby stillen und dann Fahrradfahren, ohne Stützräder. Die erste Zahnlücke. Corona. Schultüte, Seepferdchen und Vereinbarkeitslügen. Tage mit Kindern sind lang, die Jahre fliegen vorbei. Und irgendwann habe ich zum letzten Mal eine Windel gewechselt und es nicht gewusst. Tschüss, Kleinkindjahre! Schwuppdiwupp sind die Dreißiger dahin.
Das Beste kommt noch. Wirklich?
Vor rund 20 Jahren lag das Leben verheißungsvoll glitzernd vor mir. In den Augen der Glücksglanz durchtanzter Nächte und jeder neue Morgen golden. Hingabe an den Moment und dieser unbändige Hunger auf alles, was kommt. Darauf, dass das Leben so richtig beginnt.
Als wir 2012 zu unserer Hochzeit einluden, stand auf den Karten: The best is yet to come. Vielleicht ist das hier das Beste. Die Hatz und die Liebe in der Mitte des Lebens. Mit jedem Jahr, das vergeht, schwindet die Aufbruchsstimmung. Du kannst nicht immer 17 sein, Liebling, das kannst du nicht. Dinge fügen sich, ich finde mich. Irgendwann werde ich nicht mehr nach vorne schauen, sondern zurück. Wann legt sich der traurig-schöne Sepiafilter der Nostalgie auf mein Leben?
Derweil gerät das Frühstück mit dem Fünfjährigen zur Geduldsprobe. Falscher Teller, falsches Glas. Bloß nichts ungefragt schmieren, schneiden, zusammenklappen. Ich scheuche den Großen in die Schule, ziehe den weinenden Kleinen in die Kita und höre nicht zu. Bin in Gedanken bei der Arbeit und ärgere mich, weil ich wieder zu spät bin. Ich würde gern sagen: Ich entscheide mich für meine Kinder. Vor allen anderen. In jeder Situation. Weil sie alles sind, was zählt. Schaffe ich leider nicht.
Wenn mein Leben wieder langsamer wird, bin ich alt.
Vom ersten Moment an waren die beiden Muckis Sorge und Glück. Schmerz und Freude. Sie wecken meine tiefsten Zweifel und schenken mir größte Gewissheit. Mit ihnen bin ich noch einmal aufgebrochen und angekommen zugleich. Wie lange noch schieben sie ihre Hände in meine? Irgendwas ist immer schlimm. Und irgendwie geht es immer weiter. Meistens wird es dann doch wieder ganz schön schön. In unseren italienischen Sommerferien haben wir uns wie Ronja Räubertochter einen großen Sommerklumpen zusammengesammelt und von dem leben wir jetzt, da nicht mehr Sommer ist.
„Uns geht es gut“, sagt der kleine Tiger, „denn wir haben alles, was das Herz begehrt, und wir brauchen uns vor nichts zu fürchten.“ (Janosch: Oh wie schön ist Panama)
➤ Leonie Ratje ist Journalistin, Mutter zweier Kinder und schreibt für die DEICHLUST.
Text: Leonie Ratje