Magister Gerhard Halepaghe hat sich gut 500 Jahre nach seinem Tod wohl im Grabe umgedreht, als er 1966 von den Schulexperimenten an dem nach ihm benannten Halepaghen-Gymnasium gehört hat. Er muss es gehört haben, egal wie tot er war. Der Wumms war so unüberhörbar, dass der Name Buxtehude Ende der Sechzigerjahre bis ans Ende der Welt katapultiert worden ist. Quasi ein Doppelwumms, frei nach Olaf Scholz. Wobei ja an sich Buxtehude bis dahin als das Ende der Welt galt, und der Magister im 15. Jahrhundert als Klostervisitator für die Herstellung der Zucht in Klöstern und Kirchen zuständig war.
In Buxtehude ging es fortan unzüchtig zu. Die Weltpresse schaute auf diesen Ort mit dem merkwürigen Namen nahe Hamburg, Delegationen aus Europa reisten an, und ein politischer Polizist der Bezirksnachrichtenstelle Stade kam in die Stadt, um nicht nach dem Rechten, sondern nach den Linken zu sehen. Schulleiter Dr. Johannes Güthling jagte ihn vom Hof und kassierte ein Disziplinarverfahren. Die Halepaghen-Schule (HPS), eine weltberühmte Schule von 1966 bis 1982 – viel ist davon heute nicht mehr zu finden.
Was war passiert 1966?
Der Oberstudienrat Güthling, ein Mann mit von den Amerikanern weißgewaschener SS-Vergangenheit, wollte die Welt verändern – und tat es auch. Zumindest die Welt der Schulen. Das starre System der Klassenverbände in der Oberstufe seiner Schule löste er auf, die 12. und 13. Klassen wurden in lockeren Arbeitsgruppen gemeinsam unterrichtet, die Schüler konnten Kurse, Lehrstoff und Lehrer frei wählen. Und zum Überfluss: Sie konnten zur Schule gehen, oder auch nicht. Entschuldigungen der Eltern waren für Schulschwänzer nicht mehr notwendig. Was von den Konservativen des Landes und der sie begleitenden Presse als sozialistische Schulexperimente bezeichnet wurde, entpuppte sich unter dem Namen „Buxtehuder Modell“ als tauglicher Aufbruch in eine neue Welt, der in abgewandelter Form später in allen Schulen des Landes Einzug hielt. Sogar in Bayern. „Das war für mich alles ganz toll“, erinnert sich Dieter Stackmann, damals Schüler an der Konopkastraße und später Geschäftsführer des gleichnamigen Modehauses. Schiefgegangen ist sein Leben nicht, trotz oder gerade wegen des im Fachbegriff „formierte Prima“ genannten Modells. Die Auflösung der Klassenverbände habe den Unterricht belebt, selbst an sich langweiligere Stunden gerieten im Zusammenspiel mit dem höheren Jahrgang zu Höhepunkten, weiß er noch.
Das bestätigt auch Marlies Spangenberg, die nach der 10. Klasse von der Realschule Jork nach Buxtehude gekommen war, später auch Lehrerin wurde. „Ich kam sofort rein in die Wiege des Aufbruchs. Wir hatten das Gefühl, dass man uns ernst nimmt und wir zum gesellschaftlichen Leben dazugehören.“ Ganz im Gegensatz zur Schule in Jork, an der mit vielen konservativen Lehrern Zucht und Ordnung geherrscht habe, erinnert sie sich mit Grauen. In Buxtehude dagegen sei sie stolz gewesen, bei den Veränderungen dabei zu sein und Maßstäbe für die ganze Republik zu setzen.
Was so war. Güthlings Vorstellungen von einer Schule mit universitätsähnlichen Zügen funktionierte. Die Halepaghen- Schule versank nicht im Sodom und Gomorra, um im Sprachbild des Magisters zu bleiben. Es gab des Rektors Statistik zufolge weniger Durchfaller beim Abitur als zuvor. Das englische Massenblatt „The Sun“ titelte dazu: „Schule – wo die Schüler rauchen, sich jeden Tag frei nehmen und sich sogar ihren eigenen Lehrer aussuchen.“ Und der Evening Standard ergänzte:
„Das hochmoderne Gymnasium in Buxtehude bei Hamburg ist ein Ort, von dem Schüler auf der ganzen Welt träumen.“
Bestanden hat das Abitur Ende der Sechzigerjahre auch Peter Gronemeier, später Steuerberater in Buxtehude. Als stolzer Besitzer eines Autos hatte er die Aufgabe, einen Besucher vom Hamburger Flughafen abzuholen: Rudi Dutschke. Der Studentenführer hatte Wind vom aufrührerischen Buxtehude bekommen, das passte ihm gut in die Zeit. Also durften Gronemeier und sein roter Opel Kadett Coupé mit Weißwandreifen ihn abholen und später wieder zurückfahren. Übrigens nicht auf Einladung der Schüler, sondern des Schulleiters Güthling. „Die Aula war gerammelt voll“, weiß der damalige Gruppensprecher Gronemeier noch, „wir fühlten uns einfach nur groß und haben uns wie Bolle gefreut, bei allem dabei zu sein.“
Dutschke peitschte Schülern und Lehrer in der Aula ordentlich ein und rief zu mehr Mut und Demokratie auf. Die bald wehrpflichtigen jungen Männer des Gymnasiums forderte er auf, den Wehrdienst zu verweigern oder subversiv in der Bundeswehr zu arbeiten. Was ihm ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Stade einbrachte.
Sein Auftritt war am 6. März 1968, genau 36 Tage vor dem Attentat eines Rechtsextremisten auf Dutschke, das den Studentenführer so schwer am Hirn verletzte, dass er 1979 an den Spätfolgen starb. Was an seinem Todestag dazu führte, dass engagierte Halepaghen-Schüler vor der Schule eine schwarze Fahne hissten. Und zum 600. Geburtstag des Gymnasiums 1991 benannten die Abiturienten in einem Streich die Schule in Rudi-Dutschke-Schule um. Mit Güthlings Pensionierung 1969 war aber nicht Schluss. Konservativen Herren in Kultusministerium und Bezirksregierung war die Experimentiererei ein Dorn im Auge. Also beriefen sie gegen den Wunsch aus Buxtehude einen neuen Schulleiter namens Harald Kästner, ein CDU-Mitglied und, wie der „Spiegel“ schrieb, ein Minister-Günstling. Doch damit hatten die Beamten die Rechnung ohne Politik und Schule in Buxtehude gemacht. Der Schulfriede geriet aus den Fugen. Der heute vor vier Jahren 96-jährig verstorbene und als Linker bekannte Studienrat Dr. Werner Böhnke diktierte 1969 dem „Spiegel“ in den Block: „Herr Kästner hat Zielvorstellungen, die aus dem vorigen Jahrhundert stammen.“ Böhnke und der späteren Mitbegründerin der deutschen Grünen, Studienrätin Grete Thomas aus Buxtehude, wurde von der Behörde ein Disziplinarverfahren angedroht, falls sie weiter Kritik übten.
Die Schüler hatten es da leichter. Als der neue Direktor in einer Versammlung sagte „Bert Brecht soll im Unterricht nur als warnendes Beispiel gelesen werden“, mündete das in die erste wilde Schülerdemo Niedersachsens. Ein Schulsprecher konterte: „Der Schulleiter diffamiert das Buxtehuder Modell durch seine Handlungen.“ Harald Nelson, damals Schüler an der HPS, weiß noch:
„Einen Reaktionären wollten wir uns nicht vorsetzen lassen. Wir sahen unsere schülerische Freiheit bedroht.“
Kästner habe eine Vergangenheit an einer südamerikanischen Schule gehabt, an der er sich nicht mit liberalem Ruhm bekleckerte. Die Stadt schien in Aufruhr. Eine Elternvollversammlung sprach Kästner ihr Vertrauen aus, das Buxtehuder Tageblatt berichtete auf einer ganzen Seite. Doch die Politik im Stadtrat hielt zu Schülern und Lehrern. Sie wollte nicht, dass das Modell zu Grunde ging. „Eine seltene Allianz aus allen Parteien“, resümiert Nelson, heute Weinhändler in Bruchhausen-Vilsen. Die Stadt mit ihrem energischen Stadtdirektor Wilmen und verklagte wegen Kästner kurzerhand die eigene Regierung, formal wegen Verfahrensfehlern. Und: Die Stadt Buxtehude gewann vor Gericht in Stade. Kästner musste wenige Monate später gehen, es kam 1971 Ulrich Uffrecht, bekennender Atomkraftgegner, später Ratsherr der Grünen und Sohn des bekannten Reformpädagogen Bernhard Uffrecht. Der Friede an der HPS war wieder hergestellt.
Danach wurde es ruhig, das niedersächsische Schulgesetz ließ ab 1972 unter einer SPD-Regierung an allen Schulen des Bundeslandes reformierte Oberstufen zu.
Zum Buxtehuder Modell gehörte nicht nur die formierte Prima, sondern auch eine komplett andere Entscheidungsstruktur an der Schule. Die Macht der Lehrer-Gesamtkonferenz war per Schulverfassungsversuch abgeschafft und vom Gemeinsamen Ausschuss (GA) ersetzt. Darin entschieden Lehrer, Eltern und Schüler gemeinsam und drittelparitätisch in einer Art Demokratie von unten. „Ein irres Erfolgsmodell, fast wie Sozialismus“, sagte Uffrecht 92-jährig kurz vor seinem Tod 2021 dem Weser-Kurier in Bremen.
1976 bekam der Friede Risse. Ernst Albrecht (CDU) wurde Ministerpräsident und mit ihm Werner Remmers (auch CDU) Kultusminister. Der GA und andere Errungenschaften wie die Wahlfreiheit in der Oberstufe waren beiden ein Dorn im Auge. Remmers bereitete ein Schulgesetz vor, in dem der Schulverfassungsversuch in Buxtehude einfach verboten wurde. Doch die HPS wäre nicht die HPS, wenn das einfach so über die Bühne gegangen wäre. Der Schülerrat rief 1980 zum Protest auf und organisierte die erste größere Schülerdemo Deutschlands während der Schulzeit: 2000 Schüler von HPS, Berufsbildenden Schulen sowie den Schulzentren Nord und Süd marschierten in einem 800 Meter langen Zug durch die Stadt. Auf Transparenten und in Sprechchören riefen sie zum Widerstand auf – und das, obwohl die Bezirksregierung die Demonstration verboten und mit ernsten Konsequenzen gedroht hatte. Remmers war der Hauptangriffspunkt, der Chor: „Ene, mene Miste, Remmers in die Kiste, ene, mene Muh, mach die Kiste zu, ene mene Meck, schmeiß die Kiste weg.“ Das TAGEBLATT schrieb: „Den Ordnungshütern gelang es nicht, den Marsch aufzuhalten. Polizeichef Horst Niebuhr habe auf eine gewaltsame Auflösung verzichtet.“
Der Landtag beschloss das Gesetz trotzdem, der GA bekam eine Gnadenfrist bis zum Jahr 1982, in dem dann das letzte Aufbäumen der Schule stattfand, wieder Hand in Hand mit der örtlichen Politik. Wieder eine Demo, wieder Resolutionen, wieder Verhandlungen. Doch auch eine Delegation der HPS aus Schulleiter Uffrecht, dem Lehrer und späteren Schulleiter Hans-Jürgen von Maercker, dem Elternvertreter Dr. Lilienthal und dem Autor dieser Zeilen bei Remmers in Hannover endete im Nichts. Remmers hatte zwar geladen, doch im Foyer des Landtages genau acht Minuten Zeit für die Delegation, um ihr zu sagen, dass die Reise von Buxtehude nach Hannover zwecklos gewesen sei. Remmers:
Die Zeit der Schulverfassungsversuche ist vorbei. Wir müssen wieder für Ordnung an der Schule sorgen, die Macht haben nicht Schüler und Eltern, sondern Lehrer und die Schulleitung.“ Uffrecht und von Maercker sahen das anders.
Was ist geblieben? Die spannende Vergangenheit der HPS ist heute wenig präsent. Wer auf die Internetseite der Schule guckt, findet dort stiefmütterlich ein paar alte Texte, die wenige Dinge erläutern. Nur wenige Schüler haben vom Buxtehuder Modell gehört, wissen aber wenig darüber. Nachlesen kann man die Vergangenheit an der Schule nicht, es gibt im Gebäude auch nichts, was darauf verweist. Keine Schriften, keine Tafeln, keine Erinnerungen. Das bestätigt Niklas Wenzel (Abi-Jahrgang 2018): „Lehrer haben manchmal etwas davon erzählt, ich habe das auch auf Wikipedia nachgelesen. Hängengeblieben ist bei mir, dass es um die Einführung des Kurssystems ging.“ Seine Mitschüler aber wüssten meist noch weniger. Er findet, dass das Thema in der Schule mehr herausgestellt werden müsste. „Das herunterfallen zu lassen, ist unangebracht“, so Wenzel.
Bettina Fees-McCue, heute HPS-Schulleiterin, sieht das anders: „Jede Schule in Deutschland lebt das Buxtehuder Modell mit den Wahlmöglichkeiten der Oberstufe.“ Und die HPS lebe es weiter mit dem Gemeinsamen Ausschuss, der aber seit 1982 keine abschließende Entscheidungsgewalt mehr habe. Die liege beim Schulvorstand und der Schulleitung. Insgesamt zeigt sich Fees-McCue stolz, an so einer Schule zu sein: „Das war in den Sechzigerjahren absolut revolutionär und gut.“ Auf die Frage nach der Präsenz des Themas in der Schule sagt sie: Die Schule habe eine neue Homepage in Arbeit, auf der sich voraussichtlich auch mehr zum Buxtehuder Modell finden werde. Doch leider gebe es so viele Anforderungen an die Schule, dass dafür im Moment keine Zeit sei.
Der Autor: Stefan Dammann, Jahrgang 1965, war von 1976 bis 1984 an der HPS. Davon sechs Jahre lang Schulsprecher. Er volontierte beim Buxtehuder Tageblatt und arbeitete dort bis 1992 als Redakteur. Nach Stationen bei Radio Hamburg, RTL, NDR und Goslarsche Zeitung ist er seit 1996 beim Weser-Kurier in Bremen, wo er bis heute in verschiedenen Positionen arbeitete, unter anderem in der Chefredaktion, als Art-Direktor und derzeit als Abteilungsleiter der Verlagsleitung.
Text: Stefan Dammann · Fotos: Privat, Martin Jank