Die Stader Gummiwarenfabrik – Eine Industriegeschichte endet mit skurrilen Fotos

Exklusiver Blick in die Industrie-Ruine

Skurril. Gespenstisch. Düster. Finster. Unheimlich. Für jeden Fotografen ein Glücksfall, für jeden Eigentümer eine Katastrophe. So einen veralteten Industrie-Betrieb mit bis zu über 20 Tonnen schweren, alten Maschinen hatte selbst der erfahrene DEICHLUST-Fotograf Volker Schimkus noch nicht gesehen. Ein für Außenstehende besonderer Geruch, ölige Maschinen, klebriger Boden, Schimmel und ein schummriges Licht, das eine gespenstische Atmosphäre lieferte – und das mitten in Stade, an einem Ort, der von außen nicht im Ansatz erahnen ließ, was er verbirgt, beziehungsweise verborgen hat, denn von der ehemaligen „Gebr. Schmidt Gummiwarenfabrik“ ist seit wenigen Wochen nichts mehr zu sehen. Umso wichtiger dieser fotografische Streifzug durch ein wichtiges Kapitel der Stader Industriegeschichte. „Es wäre nicht notwendig gewesen, diesen Betrieb in die Insolvenz zu führen“, sagt einer der ehemaligen Beschäftigten.

„Es tut mir in der Seele weh, wenn ich die Bilder vom Abriss sehe“, sagt ein Zeitzeuge

sagt ein Zeitzeuge,

ein Mitarbeiter der von 1986 bis zuletzt in der Gummiwarenfabrik gearbeitet hatte, seinen Namen aber nicht im Magazin lesen möchte. Am Ende waren es nur noch 20 Beschäftigte, er gehörte als Standortleiter zu denen, die den Betrieb im wörtlichen Sinne abschließen mussten. Die „Gebr. Schmidt Gummiwarenfabrik GmbH & Co. KG“ als Eigentümer hatte für die Stader Destination Insolvenz angemeldet. Friedrich Witt, Geschäftsführer der Lindemann-Gruppe, hat abwarten müssen, bis der Betrieb so weit eingestellt war, dass er für die DEICHLUST im Herbst vergangenen Jahres die Tür öffnen konnte, um die alte Industrieproduktionsstätte für die Nachwelt zu dokumentieren. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Abrissbagger anrollten, denn das ein Hektar große Gelände an der Freiburger Straße soll von der Lindemann-Gruppe neu bebaut werden, wenn die Stadt Stade das Planungsrecht geschaffen hat. Das Bebauungsplanverfahren läuft, ein Architektenentwurf liegt vor. Die Lindemann-Gruppe will bis 2027 rund 150 Wohnungen bauen, vom Ein-Zimmer-Appartement bis zur Fünf-Zimmer-Wohnung in voraussichtlich 13 Gebäuden.

Zur Geschichte: Der Schlosser Arthur Schmidt hatte in seinem Elternhaus am Fischmarkt in Stade die Firma „Schmidts Gleitschutzfabrik und Dampfvulkanisieranstalt“ gegründet, die fünf Jahre später auf einem großen Gelände an der Freiburger Straße russische Autoreifen der Marke „Provodnic“ produzierte. Mit Ende des ersten Weltkriegs expandierte die Firma und neben der Reifenreparatur wurden in „Schmidts Pneumatik“ auch Fahrradreifen,- schläuche und Automobil – sowie Motorradbereifungen hergestellt. Die „Schwinge“ Gummiabsätze und -sohlen waren sowohl im Inland als auch im Ausland nachgefragt. 1918 erhielt die Firma den Namen „Schmidts Gummiwarenfabrik  Arthur  Schmidt“.

Die Firma spezialisierte sich auf die Herstellung von Spezialdruck- und Stempelgummimischungen, Matrizen und Zubehör für Druckereien im gesamten westeuropäischen Raum. Später wurden in den 50er Jahren bis zu 5.000 Fahrradschläuche täglich hergestellt, auch mit Präservativen machte sich die Stader Gummifabrik einen Namen. Nach einem Insolvenzantrag beim Amtsgericht Stade wurde der Geschäftsbetrieb 2018 auf die „New- York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie AG“ (NYH AG) übertragen und der Betrieb als gesonderter Betriebsteil geführt. Parallel wurde der Grund- und Immobilienbesitz von einer Tochtergesellschaft der Stader Lindemann Gruppe erworben. Die „Gebr. Schmidt Gummiwarenfabrik GmbH & Co. KG“ fertigte noch bis Ende 2021 Gummi- und Kunststoffmischungen für den Fahrzeugbau, die Luft- und Raumfahrt, Haushaltsgeräte und Pharmaindustrie. Im Sommer 2022 wurde letztendlich der Betrieb eingestellt. Jetzt war die Lindemann-Gruppe am Zug.

„Vom  Altbestand  war  nichts mehr zu retten“, sagt Projektleiter Klaus Detje. Ein städtebaulicher Architektenwettbewerb wurde ausgeschrieben,  sieben  Architekturbüros aus Norddeutschland hatten sich an dem Wettbewerb beteiligt. Der von einer aus Architekten, Verwaltung, Politik und Wirtschaft besetzten Jury prämierte Siegerentwurf der LRW- Architekten und Y-LA Ando Yoo Landschaftsarchitektur bildet seither die Grundlage für die Bauleitplanung. Ein Baubeginn ist angesichts der nicht final erlangten Planreife noch nicht terminiert, angepeilt ist 2025. Der Entwurf soll die Geschichte des Industriestandortes aufgreifen und eine Symbiose zwischen Tradition und Moderne liefern. Einzelne Maschinen und markante Bauteile sollen sich nach der Realisierung auf dem Gelände wiederfinden. „Wir hätten gerne einzelne Bauwerke auf dem Gelände erhalten. Leider ist in der Vergangenheit mit dem Bestand nicht besonders gut umgegangen worden. Wir haben versucht viele Erinnerungen, Dokumente, Fotos und die beeindruckende Firmengeschichte für die Nachwelt zu sichern.“ so Friedrich Witt. Fest steht zudem: Als Symbol der Industriegeschichte soll im Quartiershof eine Schornsteinstruktur errichtet werden, um an die Historie des Ortes zu erinnern.

Deichlust

Text: Wolfgang Stephan · Fotos: Volker Schimkus