Live-Schalte mit Justitia

Wenn ein Richter den Gerichtssaal betritt, stehen die Anwesenden auf. Rechtsanwalt Titus Wolf erhebt sich immer häufiger an seinem Schreibtisch vor einem Bildschirm, um dem Richteramt virtuell seinen Respekt zu erweisen. Gerichtsverhandlungen per Videokonferenz gehören längst zum Anwaltsalltag wie Mandantengespräche oder Vertragsverhandlungen.

Die Leitung steht. Die schwarze Anwaltsrobe liegt  zusammengefaltet auf dem großen Konferenztisch – neben der Tastatur, der Maus und der Prozessakte. Üblicherweise würde rund 15 Minuten vor Verhandlungsbeginn das Live-Bild aus dem Gerichtssaal übertragen, erzählt Titus Wolf, als er die schwarze Amtstracht über seinen Anzug streift. „Wenn der Senat mit dem Vorsitzenden Richter in den Saal kommt, stehe ich vor dem Bildschirm auf“, sagt der Rechtsanwalt und Partner in der Stader Kanzlei von Allwörden.

Der Experte für Steuer- und Gesellschaftsrecht hat sich nach Studium und Referendariat 2021 in Hamburg selbstständig gemacht. Mitten in der Corona-Zeit, als Online-Verfahren enorm an Bedeutung gewannen. Gleich seine zweite oder dritte Verhandlung sei virtuell geführt worden, erinnert er sich.

Bereits seit 2002 ermöglicht die Zivilprozessordnung (ZPO) Online-Verhandlungen für Zivilverfahren. Seitdem kann das Gericht eine Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung, wie diese Online-Verfahren offiziell heißen, auf Antrag eines Prozessbeteiligten gestatten, sie aber nicht selbst anordnen. Die Teilnehmenden können sich dann mit einem Computer, Tablet oder Handy zuzuschalten. Nur die Richterinnen und Richter müssen sich im Gerichtssaal aufhalten.

Digitalisierung erwacht aus dem Dornröschenschlaf.

„Wir haben auch vor Corona Verhandlungen in Videokonferenzen geführt, aber nicht in dem Ausmaß“, sagt Petra Linzer, Richterin und Pressesprecherin am Landgericht Stade. Die Corona-Pandemie hat die Digitalisierung in der Justiz gewissermaßen aus dem Dornröschenschlaf geholt. Im Jahr 2021 wurden mehr als 50.000 Gerichtsverhandlungen in Deutschland per Videokonferenz geführt.

„Hallo? Können Sie mich hören und sehen?“, knarzt es zwei Minuten vor Verhandlungsbeginn aus dem Lautsprecher des Flachbildschirms an der Wand des Besprechungsraums. „Ich höre Sie, sehe aber nichts“, antwortet Titus Wolf. Der Bildschirm flackert, im nächsten Moment ist der Sprechende zu sehen. Über Kopf allerdings. Richter Dr. Manfred Hake dreht die Kamera und grüßt noch einmal. Dann schwenkt er nach links und rechts, um die Senatskollegin und den Senatskollegen zu zeigen. Der Vertreter der Gegenseite werde sich verspäten, sagt er. Seine Stimme scheppert ein wenig. „Ich stelle mal ordnungsgemäße Amtstracht her“, sagt der Richter und schlüpft in seine Robe. Die Kamera postiert er zuvor auf der Richtertheke. Titus Wolf sieht ihn nun im leichten Anschnitt von schräg unten. Nicht besonders vorteilhaft, aber zweckmäßig. Im Sitzungssaal des Oberlandesgerichts Köln befinden sich zwei Bildschirme. Einer steht am Richtertisch, ein größerer überträgt das Bild in den Sitzungssaal.

„Die Möglichkeit zur Video-Verhandlung erleichtert uns die Arbeit“, sagt Dr. Manfred Hake, „ich nutze das gern und viel.“ Online-Verfahren würden für weniger Schriftverkehr sorgen und überdies die Fahrerei reduzieren. Mit wenigen Minuten Verspätung eröffnet der Richter das Berufungsverfahren. Senat und Rechtsanwalt der zweiten Partei sind in Köln vor Ort, Titus Wolf aus Stade zugeschaltet. Es geht um Maklerprovisionsansprüche. Eine Maklerin hatte gegen einen Projektentwickler eines Seniorenwohnparks in Cloppenburg geklagt, weil sie 2019 Seniorenwohnungen dieses Projekts vermittelt habe, aber nicht alle Rechnungen gezahlt worden seien. Das Landgericht hatte der Klage im März 2022 stattgegeben. Dieses Urteil möchte der Mandant von Titus Wolf nun durch das übergeordnete Oberlandesgericht überprüft haben.

„Auch wir sind der Ansicht, dass der Anspruch der Klägerin berechtigt ist“, sagt Richter Dr. Hake und führt aus, warum der Senat zu diesem Votum komme. In Kürze: Für die Vermittlung anderen Wohnungen des gleichen
Objekts sei gezahlt worden. Überdies belege der WhatsApp-Verlauf eine Maklervereinbarung zwischen Klägerin und Beklagtem. Eventuell biete die heutige Videoverhandlung aber die Möglichkeit auf einen Vergleich.

Unterschiede bei der technischen Ausstattung.

In Köln meldet sich der Anwalt der Gegenseite zu Wort. In Stade ist er nicht zu verstehen. Tonprobleme. Offenbar haben nicht alle Beteiligten vor Ort ein eigenes Mikro. „Ich habe dem Kollegen leider nicht folgen können“, sagt Titus Wolf. Der Richter wiederholt, dass es keine Vergleichsbereitschaft gebe. Das Gericht gewährt Titus Wolf eine Frist von einer Woche, um die Berufungsklage zurückzuziehen. Ansonsten gehe das Urteil des Berufungsgerichts zu den Akten.

Um 10.53 Uhr schließt der Richter die Sitzung. „Dauer der Sitzung: bis 30 Minuten“, gibt er zu Protokoll. Das ist wichtig, weil bei Online-Verfahren für jede halbe Stunde eine Technik-Gebühr fällig wird, die auf die Prozesskosten draufgeschlagen wird. „Dann schalte ich Sie jetzt hier weg“, sagt Dr. Manfred Hake. Ein Flimmern, Ende. Titus Wolf sitzt wieder allein im Besprechungsraum der Kanzlei. Er schließt die Akte, steht auf und streift die Robe ab.

„Das war technisch jetzt eher rudimentär“, sagt er. Die Kanzlei von Allwörden ist besser ausgestattet als der Online-Sitzungssaal des Oberlandesgerichts Köln. Kamera und Mikrofone fokussieren hier beispielsweise immer vollautomatisch auf den Sprechenden. Justiz ist Ländersache. Somit unterscheidet sich auch die technische Ausstattung der Gerichte von Bundesland zu Bundesland und von Gericht zu Gericht teils erheblich. Überall aber leisteten Online-Verfahren während der Corona-Pandemie ihren Beitrag, um die Ausbreitung des COVID- 19-Virus einzudämmen.

„Zugegeben, anfangs waren viele skeptisch“, sagt Petra Linzer. Inzwischen sei das Videoformat etabliert und akzeptiert. Es biete die Möglichkeit, kurzfristiger zu terminieren oder Sachverständige schneller ins Boot zu holen. Rund 30 Verfahren finden im Durchschnitt am Landgericht Stade jeden Monat online statt. Drei Sitzungssäle bieten die entsprechenden Voraussetzungen für eine Übertragung. Wer sich von einem anderen Ort aus zuschaltet, erhält einen Einladungslink per Mail und schon kann es losgehen – eine stabile Internetverbindung und ein Endgerät mit Kamera und Mikrofon vorausgesetzt. Die Software erlaubt es zudem, digitale Grafiken, Tabellen oder Fotos auf den Bildschirmen einzublenden. Aufgezeichnet wird die Übertragung nicht.

Durch Online-Verhandlungen entfallen lange Anfahrtswege und Abwesenheiten in den Anwaltskanzleien. Im Anschluss an die Berufungsverhandlung kehrt Titus Wolf direkt an seinen Schreibtisch zurück und arbeitet weiter. „Auch viele Mandanten finden es super, wenn sie im Unternehmen bleiben können und nicht persönlich anreisen müssen“, sagt Titus Wolf.

Wann eine Gerichtsverhandlung mit Video-Schalte sinnvoll ist, liegt im Ermessen des Gerichts. Grundsätzlich erscheint es weniger sinnvoll, je mehr persönliche Konflikte im Mittelpunkt stehen. Wenn es auf den persönlichen Eindruck der Beteiligten ankommt, kann eine Online-Gerichtsverhandlung problematisch sein. „Zeugen vernehme ich lieber von Angesicht zu Angesicht, ganz klar“, sagt Titus Wolf.

„Als Richterin muss ich Entscheidungen treffen aufgrund des Eindrucks, den ich gewinne“, sagt Petra Linzer. Das falle ihr per Video schwer, sei aber vielleicht auch eine Frage der Gewohnheit. „Das mag sich in der nächsten Generation ändern.“

Gesetzentwurf: Mehr Digitalisierung bei Gericht

Geht es nach dem Willen des Bundesministeriums der Justiz soll künftig noch mehr Videotechnik in Gerichtsverhandlungen zum Einsatz kommen. Es hat Ende 2022 einen entsprechenden Referentenentwurf vorgelegt „Videokonferenzen sollen ein selbstverständlicher Teil des Gerichtsalltags werden“, sagte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) im November. „Ihren Einsatz heben wir mit unserem Entwurf auf eine neue Stufe. Wer nicht mehr von Hamburg nach München zu einer Gerichtsverhandlung fahren muss, spart Zeit und Ressourcen.“

Die Änderungen der Zivilprozessordnung sollen für Zivil-, Arbeits-, Verwaltungs-, Sozial- und Arbeitsgerichte gelten. Für Strafverfahren sind die Digitalpläne nicht vorgesehen. Künftig sollen Gerichte Videoverhandlungen anordnen und umgekehrt auch die Parteien selbst das Gericht dazu an- halten können. Zudem sollen Verhandlungen komplett virtuell durchgeführt werden können. Auch die Richterinnen und Richter müssten dann nicht mehr im Gerichtssaal anwesend sein. Um den Grundsatz der Öffentlichkeit zu wahren, würde die Videoverhandlung dann in Bild und Ton an einen öffentlich zugänglichen Raum im Gericht übertragen werden. Außerdem soll die bislang erhobene Auslagenpauschale für die Nutzung von Videokonferenztechnik entfallen.

Deichlust

Text: Leonie Ratje · Fotos: Volker Schimkus